Freitag, 12. Juli 2019

Julian Assange wird gefoltert

von Prof. Dr. Nils Melzer, UN-Sonderberichterstatter für Folter, anlässlich des Internationalen Tages zur Unterstützung von Folteropfern am 26. Juni 2019

ef. Der UN-Sonderberichterstatter für Folter, der Schweizer Nils Melzer, hat am 26. Juni einen Beitrag (Op-Ed) über den extremen Druck veröffentlicht, dem Julian Assange ausgesetzt ist – mit allen haltlosen Anschuldigungen gegen ihn. Assange befürchtet seine Auslieferung an die USA, wo ihm ein Prozess wegen Spionage und Geheimnisverrat droht (vgl. Zeit-Fragen Nr. 12 vom 21. Mai und Nr. 13 vom 4. Juni). Ein Auslieferungsgesuch der USA hat der britische Innenminister bereits bewilligt; letztlich wird jedoch noch ein Gericht darüber entscheiden. Melzers Beitrag wird bislang von führenden westlichen Medien ignoriert. Die Begründung hierfür reicht von, es läge nicht im Kernbereich ihres Interesses, bis hin zu, es stehe nicht hoch genug auf ihrer Nachrichtenagenda. Zwei Interviews, die Melzer am 31. Mai Sky News und der BBC gegeben hatte, wurden bislang nicht gesendet. Gegenüber Russia Today sagte Melzer zum Schweigen der Medien zu seinem Bericht: «Wenn es jedoch um einen ernsten Beitrag geht, der dieses Narrativ demaskieren und die Fakten aufzeigen will, dann haben sie daran kein Interesse». Im folgenden der Wortlaut seines Op-Ed:
Ich weiss, Sie denken vielleicht, dass ich mich irre. Wie könnte das Leben in einer Botschaft mit einer Katze und einem Skateboard jemals einer Folter gleichkommen? Das ist genau das, was ich auch dachte, als Assange zum ersten Mal um Unterstützung an mein Amt appellierte. Wie die meisten Bürger war ich unbewusst durch die unerbittliche Hetze vergiftet worden, die im Laufe der Jahre verbreitet wurde. Also bedurfte es eines zweiten Klopfens an meine Tür, um meine widerwillige Aufmerksamkeit zu erregen. Aber als ich mir die Fakten dieses Falles angesehen hatte, erfüllte mich das, was ich fand, mit Abscheu und Unglauben.
Natürlich, dachte ich, Assange muss ein Vergewaltiger sein! Aber was ich herausfand, ist, dass er nie wegen einer Sexualstraftat angeklagt wurde. Zwar machten zwei Frauen in Schweden Schlagzeilen, kurz nachdem die USA die Verbündeten ermutigt hatten, Gründe für die Verfolgung von Assange zu suchen. Eine von ihnen behauptete, er habe ein Kondom zerrissen, die andere, dass er es nicht getragen habe, in beiden Fällen beim einvernehmlichen Geschlechtsverkehr – nicht gerade Szenarien, die den Anschein von «Vergewaltigung» haben – ausser in Schweden. Allerdings hat jede Frau sogar ein Kondom als Beweis vorgelegt. Das erste, angeblich von Assange getragen und zerrissen, enthüllte keinerlei DNA – weder seine, noch ihre, noch die von jemand anderem. Denken Sie nach. Das zweite, benutzte, aber intakte, hat sich bei angeblich «ungeschütztem» Geschlechtsverkehr bewährt. Überlegen Sie noch einmal. Die Frauen haben sogar geschrieben, dass sie nie beabsichtigt hatten, ein Verbrechen anzuzeigen, sondern von der hartnäckig arbeitenden schwedischen Polizei dazu «gezwungen» wurden. Denken Sie nochmals nach. Seitdem haben sowohl Schweden als auch Grossbritannien alles getan, um Assange daran zu hindern, sich diesen Anschuldigungen zu stellen, ohne sich gleichzeitig der Auslieferung durch die USA und damit einem Schauprozess mit anschliessendem Leben im Gefängnis aussetzen zu müssen. Seine letzte Zuflucht war die ecuadorianische Botschaft.
In Ordnung, dachte ich, aber sicherlich muss Assange ein Hacker sein! Doch was ich herausgefunden habe, ist, dass alle seine Enthüllungen ihm frei zugänglich waren und dass niemand ihm vorwirft, einen einzigen Computer gehackt zu haben. Tatsächlich bezieht sich die einzig strittige Hacking-Anklage gegen ihn auf seinen angeblichen erfolglosen Versuch, ein Passwort zu knacken, das, wenn es erfolgreich gewesen wäre, seiner Quelle hätte helfen können, ihre Spuren zu verwischen. Kurz gesagt: eine eher isolierte, spekulative und unbedeutende Kette von Ereignissen; ein bisschen wie der Versuch, einen Fahrer zu verfolgen, der erfolglos versucht hat, die Höchstgeschwindigkeit zu überschreiten, der aber scheiterte, weil sein Auto zu schwach war.
Nun denn, dachte ich, zumindest wissen wir sicher, dass Assange ein russischer Spion ist, sich in die US-Wahlen eingemischt und fahrlässig den Tod von Menschen verursacht hat! Aber alles, was ich herausgefunden habe, ist, dass er konsequent wahre Informationen von allgemeinem Interesse ohne Verletzung von Vertrauen, Pflicht oder Loyalität veröffentlicht hat. Ja, er hat Kriegsverbrechen, Korruption und Missbrauch aufgedeckt, aber wir sollten die nationale Sicherheit nicht mit staatlicher Straflosigkeit in einen Topf werfen. Ja, die von ihm offenbarten Fakten befähigten die US-Wähler, fundiertere Entscheidungen zu treffen, aber ist das nicht einfach Demokratie? Ja, es gibt ethische Diskussionen über die Legitimität von nicht freigegebenen Enthüllungen. Aber wenn ein echter Schaden wirklich verursacht worden wäre, warum sahen sich weder Assange noch WikiLeaks jemals mit entsprechenden Strafanzeigen oder Zivilklagen auf gerechte Entschädigung konfrontiert?
Aber sicherlich, so plädierte ich, muss Assange ein egoistischer Narzist sein, der durch die ecuadorianische Botschaft skatet und Fäkalien an die Wände schmiert? Nun, alles, was ich von den Mitarbeitern der Botschaft gehört habe, ist, dass die unvermeidlichen Unannehmlichkeiten seiner Unterkunft in ihren Büros mit gegenseitigem Respekt und Rücksicht gehandhabt wurden. Das änderte sich erst nach der Wahl von Präsident Moreno, als sie plötzlich angewiesen wurden, Verleumdungen gegen Assange zu sammeln. Und wenn sie es nicht taten, wurden sie bald wieder abgelöst. Der Präsident hat es sogar auf sich genommen, die Welt mit seinem Gerede zu beglücken und Assange persönlich sein Asyl und seine Staatsbürgerschaft zu entziehen, ohne dass ein ordnungsgemässes Gerichtsverfahren durchgeführt wurde.
Am Ende dämmerte es mir schliesslich, dass ich durch Propaganda geblendet worden war und dass Assange systematisch verleumdet worden war, um die Aufmerksamkeit von den Verbrechen abzulenken, die er aufgedeckt hatte. Nachdem er durch Isolation, Spott und Scham entmenschlicht worden war, wie die Hexen, die wir auf dem Scheiterhaufen verbrannt haben, war es leicht, ihm seine grundlegendsten Rechte zu entziehen, ohne die Öffentlichkeit weltweit zu empören. Und so wird ein rechtlicher Präzedenzfall geschaffen, durch die Hintertür unserer eigenen Selbstgefälligkeit, die in Zukunft ebenso gut auf die Enthüllungen von «The Guardian», der «New York Times» und ABC News angewendet werden kann und wird.
Nun gut, mögen Sie sagen, aber was hat Verleumdung mit Folter zu tun? Nun, das ist ein Argument der schiefen Ebene. Was in der öffentlichen Debatte wie blosses «Schlammschlachten» aussieht, wird schnell zum «Mobbing», wenn es gegen die Wehrlosen eingesetzt wird, und sogar zur «Verfolgung», wenn der Staat beteiligt ist. Fügen Sie jetzt nur noch Entschlossenheit und schweres Leiden hinzu, und was Sie bekommen, ist eine vollwertige psychologische Folter.
Ja, in einer Botschaft mit einer Katze und einem Skateboard zu leben, mag wie ein netter Deal erscheinen, wenn man dem Rest der Lügen glaubt. Aber wenn sich niemand an den Grund für den Hass erinnert, den du erleidest, wenn niemand die Wahrheit hören will, wenn weder die Gerichte noch die Medien die Mächtigen zur Rechenschaft ziehen, dann ist deine Zuflucht wirklich nur ein Gummiboot in einem Haifisch-Pool, und weder deine Katze noch dein Skateboard werden dein Leben retten.
Dennoch, so mag man sagen, warum so viel Zeit für Assange aufwenden, wenn unzählige andere weltweit gefoltert werden? Weil es hier nicht nur darum geht, Assange zu schützen, sondern auch darum, einen Präzedenzfall zu verhindern, der das Schicksal der westlichen Demokratie besiegeln könnte. Denn wenn es einmal zu einem Verbrechen geworden ist, die Wahrheit zu sagen, während die Mächtigen Straflosigkeit geniessen, wird es zu spät sein, den Kurs zu korrigieren. Dann werden wir unsere Stimme der Zensur und unser Schicksal der ungezügelten Tyrannei überlassen haben.
Dieses Op-Ed wurde dem «Guardian», der «Times», der «Financial Times», dem «Sydney Morning Herald», dem «Australian», der «Canberra Times», dem «Telegraph», der «New York Times», der «Washington Post», der Thomson Reuters Foundation und Newsweek zur Veröffentlichung angeboten.
Keiner reagierte positiv.
(Übersetzung Zeit-Fragen)
und  https://medium.com/@njmelzer/response-to-open-letter-of-1-july-2019-7222083dafc8
Julian Assange hielt während seiner Festnahme ein Buch „History of the National Security State“ in den Händen.
Julian Assange hielt während seiner Festnahme ein Buch „History of the National Security State“ in den Händen.Quelle: imago images / Italy Photo Press
London
Charismatisch und ein Kämpfer für die Gerechtigkeit oder ein gefährlicher Egomane? An Julian Assange scheiden sich die Geister. Jetzt wurde der Wikileaks-Gründer nach sieben Jahren in der Botschaft Ecuadors festgenommen. Das Land hatte ihm das Asyl entzogen. Nun droht Assange eine Auslieferung an die USA. Die Presse kommentiert den Fall kontrovers:

Süddeutsche Zeitung“: Kein Held, aber er verdient Milde

„Man darf ihm einen milden Richter wünschen, der berücksichtigt, dass Assanges Intention – Aufklärung von Schwerverbrechen – gut war. Und dass er in den vergangenen Jahren für seine Handlungen bereits einen hohen Preis zahlen musste. Wer kein Ritter ist, muss nicht unbedingt Schurke sein.“

Neue Osnabrücker Zeitung“: Der Westen muss sich schämen

Mutiger Aufklärer oder krimineller Verräter? Julian Assange gehört klar in die erste Kategorie. Für die Art des Umgangs mit ihm muss der Westen sich schämen.
Tausende Dokumente über Vergehen des US-Militärs im Irak und in Afghanistan, über Kriegsverbrechen, Folter, Beschuss von Zivilisten und Guantánamo wären ohne Assanges Internetplattform Wikileaks im Dunkeln geblieben. Sieben Jahre nach seiner Flucht wird Assange nun unter einem erneuten Vorwand der Justiz übergeben.
Will Deutschland glaubwürdig bleiben, muss es sich vor ihn stellen. In der EU auf den gesetzlichen Schutz von Whistleblowern zu dringen, aber zugleich einem Weltstar der Szene nicht zur Seite zu stehen wäre unglaubwürdig und schäbig.
Fast sieben Jahre lebte Julian Assange in der ecuadorianischen Botschaft in London, um seiner Festnahme zu entgehen. Nun hat das Land ihn vor die Tür gesetzt - und die britische Polizei schlug umgehend zu. Die USA wollen eine Auslieferung.

Badische Zeitung“ (Freiburg): Ein Eiferer, der sich verrannt hat

Angeblich erwartet Assange in London kein faires Verfahren, angeblich lauert in der USA Willkür pur, angeblich handelt es sich selbst beim Vorwurf des sexuellen Missbrauchs nur um eine hässliche Lüge. Man ahnt, in Assanges Sicht ist alle Welt des Teufels, nur einer nicht. Es ist die Sicht eines Eiferers, der sich verrannt hat. Fast schon tragisch: Assange erweist damit auch der wichtigen Arbeit von Whistleblowern einen Bärendienst.

„Der Standard“ (Österreich): Assange verdient Fairness, aber keine Bewunderung

„Ob Assange in den USA einen fairen Prozess nach europäischen Maßstäben erwarten kann, ist zumindest fraglich. Zu groß ist die seit Jahren aufgestaute Wut über die peinlichen Enthüllungen durch Wikileaks. Das hat die Whistleblowerin Chelsea Manning, die ihm einst als US-Soldatin die Dokumente über den Irak geliefert hat, durch ihre jahrelange Haft zu spüren bekommen. Und auch wenn die Vorwürfe der US-Justiz gegen Assange derzeit limitiert sind, wäre eine Verurteilung des Wikileaks-Gründers auch ein Schlag gegen die Pressefreiheit. Aber Assange ist nicht die Lichtgestalt, als die ihn viele darstellen, sondern Teil jener Kräfte, die heute an der Zerstörung der liberalen Demokratie arbeiten. Er verdient Fairness, aber keine Bewunderung.“

„Badische Neueste Nachrichten“ (Karlsruhe): Heute sind Enthüllungen auf allen Ebenen keine Heldentaten mehr

Als Wikileaks gestartet waren, bedurfte es noch schillernder Ritter, die medienwirksam die Windmühlen der angeblich verbrecherischen Staaten angriffen und ordentlich Wind in der Öffentlichkeit machten.
Heute sind Enthüllungen auf allen Ebenen eher keine Heldentaten mehr, sondern fast schon Massenware, an die sich viele gewöhnt haben. Dennoch gebührt Julian Assange Anerkennung, gemeinsam mit anderen diesen Mechanismus in Gang gesetzt zu haben.
Wikileaks-Gründer Assange in London festgenommen
Man muss den bisweilen selbstverliebt wirkenden Hacker nicht für eine Lichtgestalt halten. Trotz all seiner Widersprüche und Allüren hat er dennoch dazu beigetragen, Missbrauch und Exzesse in der Politik bloßzustellen. Dadurch haben die Whistleblower um Assange die Welt ein Stück besser gemacht. Wenn die britischen Richter dies und die Umstände der elenden siebenjährigen Selbstisolation des Australiers gegen seine Rechtsverletzungen abwägen, sollten sie Milde walten lassen.

„Nürnberger Nachrichten“: Festnahme markiert einen dunklen Moment

Assange wird wohl in die USA ausgeliefert werden. Laut Auslieferungsgesuch der USA wird ihm nur noch Verschwörung vorgeworfen, nicht mehr Hochverrat. Es droht damit weder lebenslange Haft noch Todesstrafe. Für alle, die es für wichtig halten, dass dubiose Vorgänge durch Whistleblower an die Öffentlichkeit gelangen, markiert Assanges Festnahme dennoch einen dunklen Moment.

Nordwest-Zeitung“ (Oldenburg): Assange hat einer Wahrheit ans Licht geholfen

„Man muss nicht zu den Bewunderern des enigmatischen Wikileaks-Gründers gehören, um sich über die konzertierte Aktion der USAGroßbritanniens und Ecuadors zu empören. Die britische Premierministerin Theresa May doziert, niemand stehe über dem Gesetz. Ein merkwürdiger Satz, denn dass Ecuador Assange so lange Asyl gewährt hat, war ja nicht illegal. Gegenüber diesen Ränkespielen strahlen die Verdienste Assanges umso heller. Die Enthüllungen der Plattform haben den Blick vor allem auf den Krieg der US-Streitkräfte in Afghanistan verändert. Der Grund, warum sich der Australier so mächtige Feinde gemacht hat, ist nach wie vor ehrenwert: Er hat einer Wahrheit ans Licht geholfen.“

taz“ (Berlin): Es trifft in dieser Sache den Falschen

„Was Wikileaks geleistet hat, trug wesentlich zur Aufklärung der Öffentlichkeit bei. Genau die gleiche Öffentlichkeit allerdings, die es nicht vermochte, politische Konsequenzen zu erzwingen. Dennoch: Es gibt Informationen, die zu veröffentlichen auch Regelbrüche rechtfertigt. Dafür gehört Julian Assange nicht ins Gefängnis, genauso wenig, wie Chelsea Manning je hätte einsitzen dürfen. Aber ein glaubwürdiger Vorreiter für Transparenz und für die demokratische Kontrolle der Macht ist der Selbstdarsteller Julian Assange ganz sicher nicht oder nicht mehr.“