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Der Macht-Wahn
Mittwoch, 17. April 2019
Wie in Syrien geht es auch in Venezuela nicht nur um Öl,
sondern um die Sucht, andere zu beherrschen.
von Andre Vltchek
Nicht das Erdöl, sondern die Besessenheit des Westens, andere zu
beherrschen, ist laut Andre Vltchek der eigentliche Grund für die Gewalt und
den Terror, den der Westen über die ganze Welt bringt. Diese Besessenheit
findet in den neokolonialen Kriegen ebenso ihren Ausdruck wie in den
Regime-Change-Bestrebungen in Venezuela und Syrien. Und wer sich wie Venezuela
und Syrien gegen die Vereinnahmung durch den Westen wehrt, kämpft gleichzeitig
für die ganze unterdrückte Welt.
Ja, neueste Forschungsergebnisse bestätigen,
dass Venezuelas Rohstoffvorkommen so groß sind, dass sie alleine den Weltbedarf
an Erdöl für die nächsten dreißig Jahre decken könnten. Und es hat in seinem
Orinoco-Becken und anderen Gebieten noch viel mehr als Öl zu bieten.
Aber es geht nicht „nur um Öl“ — ganz und gar
nicht.
Jene, die annehmen, dass es einfach
„Geschäftsinteressen“ und die legendäre westliche Gier sind, die den westlichen
Terror auf der ganzen Welt verbreiten, begreifen meines Erachtens das
Wesentliche nicht.
Mir ist aufgefallen, dass diese Personen und
Analytiker wirklich glauben, dass „der Kapitalismus an allem schuld ist“ und
dass er die Kultur der Gewalt erschafft, der weder Opfer noch Täter entrinnen
können.
Kapitalismus ist Folge, nicht
Ursache
Nachdem ich überall auf der Welt gearbeitet
habe, bin ich mehr denn je davon überzeugt, dass der Kapitalismus eine Folge
der westlichen Kultur ist, die hauptsächlich auf Expansionismus, Exzeptionalismus
und Aggression beruht. Zudem baut er auf einem tief verwurzelten Bedürfnis auf,
zu kontrollieren und zu gebieten. Finanzielle und monetäre Habgier ist nur eine
Nebenerscheinung dieser Kultur, die ihre Überlegenheit zu etwas erhoben hat,
das als religiös oder gar als religiös fundamentalistisch bezeichnet werden
könnte.
Oder anders ausgedrückt:
Die Hauptreligion Europas und Nordamerikas ist heute der
Glaube an die eigene Überlegenheit.
Der widerspenstigen Länder
Zähmung
Inwiefern sind die Szenarien in Libyen,
Syrien und Venezuela vergleichbar? Warum war der Westen so sehr darauf aus,
diese drei — auf den ersten Blick so unterschiedlichen — Länder so bösartig
anzugreifen und schließlich zu zerstören? Die Antwort ist ganz einfach,
wenngleich sie im Westen nicht geäußert wird — zumindest nicht öffentlich:
Alle drei Länder standen an der Spitze der
Förderung des entschiedenen Kampfes für Konzepte wie den „Pan-Afrikanismus“,
den „Pan-Arabismus“ und die „Patria Grande“ — also im Wesentlichen die
lateinamerikanische Unabhängigkeit und Einheit.
Gaddafi, Al-Assad und Chavez sind bis heute
regional und international als anti-imperialistische Kämpfer anerkannt, die
hunderte Millionen von Menschen inspirieren und ihnen Hoffnung schenken.
Gaddafi wurde ermordet, Chavez wahrscheinlich
auch getötet und Al-Assad und sein Volk kämpfen seit langen Jahren buchstäblich
ums Überleben.
Der gegenwärtige venezolanische Präsident
Maduro, der sich entschlossen den Idealen der bolivarischen Revolution
verpflichtet hat, hat bereits mindestens einen Mordversuch überlebt und ist nun
direkten, mafiösen Drohungen des Westens ausgesetzt. Sein Land könnte jederzeit
angegriffen werden — direkt oder durch die lateinamerikanischen
Satellitenstaaten des Westens.
Neo-Kolonialismus
Der Grund dafür ist, dass Afrika, der Nahe
Osten und Lateinamerika jahrhundertelang als Kolonien betrachtet und behandelt
wurden. Und jedes Mal, wenn sich Menschen gewehrt haben, sind sie sofort von
der eisernen Faust des imperialistischen Westens zerschmettert worden. Und
diejenigen, die glauben, von einer göttlichen Macht die Herrschaft über die
Welt übertragen bekommen zu haben, möchten, dass das auf immer so bleibt.
Europa und Nordamerika sind besessen davon,
andere zu beherrschen, und um herrschen zu können, meinen sie, jeden Widerstand
in ihren Kolonien und Neo-Kolonien ersticken zu müssen.
Der Westen befindet sich in einem
Geisteszustand, den ich in meinen früheren Essays als Sadistische
Persönlichkeitsstörung (SPS) definiert habe.
Indonesien — einst unabhängig, heute
Satellitenstaat
Um ein umfassendes Bild zu bekommen, muss man
an Indonesien zurückdenken, das 1965 als unabhängige und progressive Nation
praktisch ausgelöscht wurde. Sein internationalistischer Präsident Sukarno —
Vater der Bewegung der Blockfreien Staaten und enger Verbündeter der
Kommunistischen Partei Indonesiens — wurde vom verräterischen, intellektuell
und moralisch gestörten und vom Westen ausgewählten General Suharto gestürzt.
Damit wurde dem Turbokapitalismus und der ungezügelten Plünderei der Rohstoffe
seines Landes Tür und Tor geöffnet.
Nachdem es einst richtungsweisend für den
Unabhängigkeitskampf ganz Asiens gewesen war, wurde Indonesien nach dem von den
USA, Großbritannien und Australien verursachten extremen Völkermord zu nichts
als einem psychisch verstümmelten und vollkommen verarmten „Satellitenstaat“
des Westens reduziert.
Der Westen besitzt die unglaubliche
Fähigkeit, echte Führer regionaler Unabhängigkeit zu erkennen, sie zu
verunglimpfen, sie durch eine selbst initiierte und dann aufrechterhaltene
sogenannte „lokale Opposition“ zu schwächen und sie — und damit auch ihre
Länder und sogar ganze Regionen — dann später zu vernichten.
Manchmal greift der Westen ganze Länder an —
wie es im Iran 1953, im Irak oder in Nicaragua der Fall war. Öfter jedoch geht
er direkt den „großen Fischen“ an die Gurgel: Anführern der regionalen
Opposition, wie in Libyen, Indonesien, Syrien und jetzt auch in Venezuela.
Viele aufmüpfige Menschen sind bereits
tatsächlich ermordet worden: Gaddafi, Hussein, Lumumba und Chavez, um nur
einige zu nennen.
Und natürlich versucht der Westen, egal was
er tut, die größten Anführer der anti-westlichen und anti-imperialistischen
Koalition zu vernichten: Russland und China.
Es geht bei Weitem nicht nur um
Öl oder Profite.
Der Westen braucht die Herrschaft über
andere. Er ist davon besessen, die Welt zu kontrollieren, sich überlegen und
außergewöhnlich zu fühlen. Es ist ein Spiel, ein tödliches Spiel. Über
Jahrhunderte hinweg hat sich der Westen als fundamentalistischer religiöser
Fanatiker aufgeführt und die Menschen im Westen haben nicht einmal bemerkt,
dass ihr Weltbild tatsächlich zu einem Synonym für Exzeptionalismus und
kulturelle Überlegenheit wurde. Deswegen hat der Westen auch so großen Erfolg
damit, extremistische religiöse Bewegungen jeder Art zu erschaffen und
praktisch allen Gegenden der Welt aufzuzwingen: von Ozeanien und Asien über
Afrika und Lateinamerika bis hin nach China. Westliche Anführer sind mit
christlichen, muslimischen oder sogar buddhistischen Extremisten „vertraut“.
„Wir kämpfen für die gesamte
unterdrückte Welt“
Syrien jedoch ist es gelungen zu überleben
und bis heute allen Angriffen standzuhalten. Die Regierungstruppen nehmen die
letzte Bastion der Terroristen, Idlib, einzig deswegen noch nicht ein, weil die
Zivilbevölkerung enorme Opfer während eines solchen Kampfes zu erleiden hätte.
Auch Venezuela weigert sich, sich
niederzuwerfen und zu ergeben. Und sollten der Westen und seine Bündnispartner
es wagen anzugreifen, wird der Widerstand, werden die Millionen von Menschen
ohne Zweifel für die Dörfer und das Land kämpfen und sich notfalls in den
Urwald zurückziehen und einen Guerilla-Befreiungskrieg gegen die Besatzer und
die verräterischen Eliten führen.
Washington, London, Paris und Madrid wenden
eine ausgesprochen veraltete Strategie an — eine, die im Kampf gegen Libyen
noch funktionierte, aber in Syrien total versagte.
Kürzlich erzählten mir in Syrien nahe der
Frontlinie von Idlib zwei ranghohe Befehlshaber, sie kämpften „nicht nur für
Syrien, sondern für die gesamte unterdrückte Welt, einschließlich Venezuelas“.
Sie hatten also verstanden, dass der Westen genau die gleiche Strategie gegen
Caracas anwendet, die er auch gegen Damaskus versucht hatte anzuwenden.
Nun leidet und kämpft auch Venezuela für die
gesamte unterdrückte Welt.
Es hat „kein Recht, zu versagen“, so wie
Syrien kein Recht zur Kapitulation hatte.
Schon die Zerstörung Libyens hatte
verheerende Auswirkungen auf Afrika — und sie öffnete der erneuten und
zügellosen Plünderung des Kontinents durch Frankreich wieder Tür und Tor.
Großbritannien und die USA schlossen sich Frankreich schnell an.
Syrien widersetzt sich als letztes Bollwerk
der totalen Kontrolle des Westens über den Nahen Osten. Syrien und Iran.
Letzterer jedoch ist noch keine „Front“, wenngleich es oft so aussieht, als
könnte er bald zu einer werden.
Aus denselben Gründen darf auch Venezuela
nicht fallen. Es liegt an der nördlichen Spitze Südamerikas. Darunter befindet
sich ein gesamter Kontinent, der über Jahrzehnte und Jahrhunderte von Europa
und Nordamerika terrorisiert wurde — seine Einwohner brutal misshandelt,
ausgeplündert, gefoltert. Südamerika, wo zig Millionen Menschen ausgerottet
wurden wie Tiere oder gezwungen, zum Christentum überzutreten, denen man alles
nahm, und denen bizarre westliche politische und ökonomische Modelle
aufgezwungen wurden.
In Brasilien war die progressive
sozialistische Regierung der PT (der Arbeiterpartei, Anmerkung der
Übersetzerin) bereits gestürzt worden.
Wenn Venezuela fällt, könnte für Jahrzehnte,
wenn nicht Jahrhunderte, alles verloren sein.
Also wird es kämpfen — gemeinsam mit den
wenigen anderen standhaften Ländern, die in dieser „westlichen Hemisphäre“ noch
übrig sind, und die von den Diktatoren in Washington D.C. ganz offen als ihr
„Hinterhof“ beschrieben werden.
Caracas steht noch und kämpft für die
riesigen Slums in Peru, für die bettelarmen Millionen Menschen in Paraguay, für
brasilianische Favelas, gegen privatisierte Bewässerungssysteme und den
geschundenen Regenwald in Brasilien.
So wie Syrien noch immer für Palästina
kämpft, für die verarmten Minderheiten in Saudi-Arabien und in Bahrein, für den
Jemen, den Irak und Afghanistan — den beiden letzten Ländern wurde von der NATO
fast alles geraubt.
Russland hat bereits gezeigt, was es für
seine arabischen Brüder tun kann, und demonstriert nun seine Bereitschaft,
seinen anderen engen Bündnispartner, Venezuela, zu unterstützen.
Sowohl China als auch Südafrika schließen
sich zusehends der Koalition anti-imperialistischer Kämpfer an.
Worum es wirklich geht
Nein — bei Venezuela geht es nicht nur um Öl.
Es geht um den Westen, der in der Lage sein
möchte, den Zugang des Panama-Kanals für chinesische Schiffe zu sperren.
Es geht um die totale Beherrschung der Welt —
ideologisch, politisch, ökonomisch und sozial. Es geht um die Auslöschung
jeglicher Opposition in der westlichen Hemisphäre.
Sollte Venezuela fallen, könnte es der Westen
wagen, zuerst Nicaragua und dann Kuba anzugreifen, das Bollwerk des Sozialismus
und Internationalismus.
Deswegen darf Venezuela niemals fallen.
Der Kampf um Venezuela tobt bereits an allen
Fronten, auch an der ideologischen. Wir kämpfen dort nicht nur für Caracas,
Maracaibo oder Ciudad Bolivar; wir kämpfen für die gesamte unterdrückte Welt,
so wie wir es in Damaskus, Aleppo, Homs und Idlib getan haben und noch immer
tun — und wie wir es möglicherweise bald in vielen anderen Städten weltweit tun
werden. Wir können nicht ruhen, wir müssen weiterhin wachsam sein, wir können
nirgends auf der Welt einen endgültigen Sieg feiern, solange der westliche
Imperialismus lebendig ist, so lange er seine Träume, den ganzen Planeten zu
beherrschen und zu zerstören, nicht aufgibt.
Deshalb geht es hier um weit mehr als „nur um
Öl“. Es geht um das Überleben unseres Planeten.