Die Zeitung Wedomosti hat mich gebeten, mich zur
Situation im Zusammenhang mit dem Vertrag über das Verbot von Kurz- und
Mittelstreckenraketen (INF) zu äußern. Tatsächlich beunruhigt das Schicksal
dieses Vertrags Politiker und Menschen auf allen Kontinenten. Ich mache mir
auch Sorgen, nicht nur, weil ich im Dezember 1987 den Vertrag mit US-Präsident
Ronald Reagan unterzeichnet habe. In den Geschehnissen sehe ich eine weitere
Manifestation gefährlicher destruktiver Tendenzen in der Weltpolitik.
Die Idee, die für uns auf dem Weg zum Vertrag die
wichtigste Leitlinie war, wurde in einer gemeinsamen Erklärung der Staats-und
Regierungschefs der UdSSR und der Vereinigten Staaten zum Ausdruck gebracht,
die bei unserem ersten Treffen in Genf angenommen wurde: „Ein Atomkrieg darf
nicht zugelassen werden, es kann dabei keine Sieger geben“.
Der Vertrag war der erste Schritt, dem weitere folgten:
der Vertrag über die Reduzierung strategischer Atomwaffen (START) und
die gegenseitigen Schritte zur Beseitigung eines Großteils der taktischen
Atomwaffen. Unsere Staaten haben ihre Militärdoktrinen mit dem Ziel
überarbeitet, die Abhängigkeit von Atomwaffen zu verringern. Im Vergleich zum
Höhepunkt des Kalten Krieges hat sich die Zahl der Atomwaffen in Russland und
den USA um mehr als 80 Prozent verringert.
Der damals eingeleitete Prozess betraf nicht nur
Atomwaffen. Das Übereinkommen über die Beseitigung chemischer Waffen
wurde unterzeichnet, und die Länder Ost-und Westeuropas einigten sich darauf,
ihre Streitkräfte drastisch zu reduzieren. Das war die
„Friedensdividende“, die alle und vor allem die Europäer als Folge des Ende des
Kalten Krieges erhalten hatten.
In all den Jahren hat der INF-Vertrag der Sicherheit
unserer Länder gedient und die Möglichkeit der Stationierung von „Waffen für
den nuklearen Enthauptungsschlag“ in der Nähe unserer Grenzen
ausgeschlossen. Ich muss hier jedoch auch sagen, dass hochrangige russische
Beamte ihn manchmal ungerechter Kritiken unterworfen haben, angeblich hätten
wir diese Raketen nicht vernichten dürfen, sie hätten für uns noch mal nützlich
sein können. Darauf habe ich entschieden geantwortet. Aber in letzter Zeit hat
Russland eine klare Position für die Erhaltung des Vertrags eingenommen. Ich
hoffe, dass dies ein tieferes Verständnis für die Bedeutung Vertrages und
generell für die Fragen der strategischen Stabilität widerspiegelt.
Was in den Jahren, seit der Kalte Krieg beendet ist,
erreicht wurde, ist in hohem Maße gefährdet. Die Entscheidung der USA, sich aus
der INF-Vertrag zurückzuziehen, droht, das Rad der Geschichte zurückzudrehen.
Und es war nicht der erste Schritt. Die Vereinigten Staaten weigerten sich, den
Atomteststop-Vertrag zu ratifizieren. Als Folge einer einseitigen Entscheidung
der USA im Jahr 2002 haben sie den Vertrag über die Begrenzung von
Systemen zur Raketenabwehr (ABM) gekündigt. Von den drei Säulen der
globalen strategischen Sicherheit – ABM, INF und START – ist nur noch der NEW-START-Vertrag
übrig, der von den Präsidenten Medwedew und Obama im Jahr 2010 unterzeichnet
wurde. Aber auch sein Schicksal ist ungewiss. Nach Aussagen von Vertretern der
amerikanischen Regierung zu urteilen, kann auch er bald „in die Geschichte
eingehen“.
Was ist passiert? Welche Bedrohung zwingt Amerika zur
Zerstörung des Systems zur Begrenzung von Nuklearwaffen, das der Welt seit
Jahrzehnten dient? Die Kündigung des INF-Verrages sollte gemäß Vertrag eine
„Erklärung über die außergewöhnlichen Umstände enthalten, die nach Ansicht der
kündigenden Partei ihre höchsten Interessen bedrohen“. Das heißt, der Staat,
der einen so ernsten Schritt unternimmt, sollte der Weltgemeinschaft erklären,
was ihn dazu bringt, das Gebäude der internationalen Sicherheit
einzureißen.
Wo ist diese Bedrohung für die „höchsten Interessen“ der
US-Sicherheit? Ein Land, dessen Militärausgaben die Ausgaben aller möglichen
Rivalen um ein vielfaches übersteigen? Haben die Vereinigten Staaten gegenüber
der Weltgemeinschaft, der Öffentlichkeit und dem UN-Sicherheitsrat, der
geschaffen wurde, um solche, die Welt bedrohenden Probleme zu diskutieren und
zu lösen, eine solche Erklärung abgegeben? Nein, das ist nicht geschehen.
Stattdessen gibt es Anschuldigungen gegen Russland wegen angeblicher
Verstöße, die selbst für erfahrene Spezialisten nur schwer zu verstehen sind.
Und die Diskussion über diese Behauptungen erfolgte im Stile von Ultimaten.
Um ihre Position zu untermauern, beziehen sich die
Vereinigten Staaten auch auf das Vorhandensein von Mittelstreckenraketen in
anderen Ländern, insbesondere in China, Iran und Nordkorea. Aber das ist
nicht überzeugend. Die Vereinigten Staaten und Russland besitzen immer
noch mehr als 90 Prozent der weltweiten Atomwaffen. In diesem Sinne sind
unsere beiden Länder tatsächlich noch „Supermächte“. Die Atomwaffenarsenale
anderer Länder sind 10 bis 15 Mal kleiner. Wenn der Prozess der Reduzierung von
Atomwaffen fortgesetzt würde, müssten sich natürlich irgendwann andere Länder,
darunter Großbritannien, Frankreich und China, dem INf-Vertrag
anschließen. Das war unser Verständnis zu dem Zeitpunkt, als wir den Prozess
der nuklearen Abrüstung in Gang setzten, und diese Länder haben wiederholt das
entsprechende politische Interesse bekräftigt. Aber es ist schwierig, von ihnen
Zurückhaltung zu verlangen, wenn eine der Supermächten die Selbstbeschränkung aufhebt
und ihr Atomwaffenarsenal ausbauen will.
Wir können nicht umhin, zu dem Schluss zu kommen, dass
hinter der Entscheidung der USA, sich aus dem Vertrag zurückzuziehen, nicht die
Gründe stehen, auf die sich amerikanische Führer berufen, sondern ein ganz
anderer Grund:
Der Wunsch der Vereinigten Staaten, sich von allen
Beschränkungen im Bereich der Rüstung zu befreien, um eine absolute
militärische Überlegenheit zu erlangen. „Wir haben viel mehr Geld als jedes andere Land“ sagte
Präsident Trump „und wir werden unsere Rüstung aufbauen, bis sie zur Vernunft
kommen“.
Man muss davon ausgehen, dass sie der Welt ihren Willen
zu diktieren wollen, welche
Gründe gibt sonst?
Aber das ist ein illusorisches Ziel, eine unerfüllbare
Hoffnung. Die Hegemonie eines Landes ist in der modernen Welt unmöglich.
Das Ergebnis der aktuellen destruktiven Wende wird ganz anders aussehen:
Die Destabilisierung der globalen strategischen
Situation, ein neues Wettrüsten, eine zunehmend chaotische und unberechenbare
Weltpolitik.
Die Sicherheit aller Länder, einschließlich der USA, wird
darunter leiden. Das ist die natürliche Logik aller unkontrollierbaren
Prozesse.
Der US-Präsident sagte, die USA hoffen, einen neuen,
„guten“ Vertrag abzuschließen. Was für einen Vertrag? Einen Vertrag über
den Ausbau der Rüstung? Ich denke, dass niemand sich von diesem Versprechen in
die Irre führen lassen sollte, wie auch von der Erklärung von US-Außenminister
Pompeo, dass die Vereinigten Staaten „keine Pläne haben, sofort neue Raketen zu
stationieren“. Das bedeutet nur, dass die Vereinigten Staaten diese Raketen
noch nicht besitzen. Und diese Zusicherungen überzeugten die Europäer eindeutig
nicht. Sie sind alarmiert und man kann sie verstehen. Alle erinnern sich noch
an die „Raketenkrise“ der frühen 1980er Jahre, als Hunderte Raketen auf unserem
Kontinent stationiert waren: sowjetische SS-20 und amerikanische
„Pershings“. Und jeder weiß, dass eine neue Runde des Raketenwettrüstens
noch gefährlicher sein wird.
Ich begrüße die Bemühungen der europäischen Länder, den
INF-Vertrag zu retten. Die EU forderte die USA auf, „die Folgen eines Austritts
aus dem Vertrag für die eigene Sicherheit, die Sicherheit ihrer Verbündeten und
der Welt zu berücksichtigen“. Bundesaußenminister Heiko Maas, der davor warnte,
dass „die Kündigung des INF-Vertrages viele negative Folgen haben wird“, reiste
nach Moskau und Washington und versuchte, eine Lösung für das Problem zu
finden. Es ist schade, dass dieser Versuch keine Ergebnisse gebracht hat, aber
es ist notwendig, die Anstrengungen fortzusetzen – zu viel steht auf dem Spiel.
Diejenigen, die den Vertrag beerdigen wollen, sagen, dass
sich die Welt seit seinem Abschluss stark verändert hat und der Vertrag einfach
überholt ist. Das erste ist sicherlich wahr, aber das zweite ist zutiefst
falsch. Die Veränderungen, die sich in der Welt vollzogen haben, erfordern
nicht die Ablehnung von Abkommen, die nach dem Ende des Kalten Krieges die
Grundlage für die internationale Sicherheit geschaffen haben, sondern eine
weitere Bewegung hin zum Endziel der Beseitigung von Atomwaffen. Das sollte im
Mittelpunkt unserer Bemühungen stehen.
Ich möchte mich an die Amerikaner wenden, insbesondere an
die Mitglieder der Kongresses, an Republikaner und Demokraten. Ich bedauere, dass
die aktuelle innenpolitische Lage in den Vereinigten Staaten in den letzten
Jahren dazu geführt hat, dass der Dialog zwischen unseren Ländern zu fast allen
Themen, einschließlich den Atomwaffen, beendet wurde. Es ist an der Zeit, den
Streit zwischen den amerikanischen Parteien zu überwinden und ernsthafte
Gespräche zu beginnen. Ich bin sicher, dass Russland dazu bereit sein wird.
Wir brauchen neue Ideen, die dazu beitragen würden, die
Beziehungen zwischen Russland und Amerika wieder in Bewegung zu bringen.
Hierbei spielen die Experten eine wichtige Rolle. Kürzlich haben der ehemalige
US-Außenminister George Shultz und ich in einem Artikel, der in der „Russkaya
Gazeta“ und in der „Washington Post“ veröffentlicht wurde, dazu aufgefordert,
ein nichtstaatliches Forum russischer und amerikanischer Experten zu schaffen,
um über die Veränderungen in der internationalen Sicherheit zu diskutieren und
Lösungsvorschläge für die Regierungen unserer Länder zu entwickeln.
Das Wichtigste, was ich fordern möchte, ist ein
ernsthaftes Umdenken bei den Politikern. Die Militarisierung des Denkens
führte zur Militarisierung des Verhaltens der Staaten, zu militärischen
Einsätzen in Jugoslawien, Irak, Libyen und anderen Ländern. Die Folgen
werden noch sehr lange spürbar sein.
Der Schlüssel zur Lösung von Sicherheitsproblemen liegt
nicht in Waffen, sondern in der Politik. Die beunruhigenden Ereignisse der
vergangenen Wochen lassen keine wohlwollende Reaktion erwarten. Aber sie
sollten auch nicht zu Panik führen. Es ist notwendig, die geschaffene Situation
zu analysieren und vor allem zu handeln, um zu verhindern, dass die Welt in ein
Wettrüsten, in eine Konfrontation, in Feindschaft abgleitet. Komme, was wolle,
ich glaube, dass wir das schaffen können. https://www.anti-spiegel.ru/2019/gorbatschow-veroeffentlicht-einen-wichtigen-und-intelligenten-appell-gegen-ein-neues-wettruesten/