Madonna und die ESC Katastrophe
„Hast Du den Eurovisions-Dingsda gesehen?“ fragte mich ein nordeuropäischer Freund am Sonntag früh am Telefon. Leicht konsterniert antwortete ich: „Nein, Du etwa? Musstest Du? Wegen Deiner Tochter? Gute Besserung!“, weil mein Freund nicht zum Schnulzenkonsum neigt und mir noch nie Popmusik empfohlen hatte.
Er blieb freundlich hartnäckig. „Nein, ich meine es ernst. Guck Dir mal Madonnas Auftritt an. Wirklich verblüffend. Ich kann mir nicht vorstellen, dass das abgesprochen war. Wir telefonieren dann nachher noch mal.“
Da mein Freund nicht zu Gefühlsausbrüchen neigt, war ich neugierig und setzte mich gleich an den Computer. Bei der Suche nach Madonna und ESC fand ich zahlreiche Berichte über einen desaströsen Auftritt, Spiegel, Focus und Süddeutsche sprachen von einem Tiefpunkt, einem Fiasko, einer Bankrotterklärung, legten Madonna das Ende ihrer Karriere nahe, die Welt schrieb sogar, dass ihre Karriere mit diesem Auftritt zerstört sei. So viel Häme war selten, selbst beim deutschen Zentralorgan der unbegründeten Überheblichkeit, dem Spiegel. Bei der Bild-Zeitung wurde die Sache durchsichtiger. Madonna habe bei ihrem Gastland Verärgerung und Empörung ausgelöst, indem sie eine politische Botschaft in den ESC reingeschmuggelt habe. Und das sei nicht Bestandteil der Proben gewesen.
Und dann landete ich bei Youtube. Madonnas Auftritt in Youtube hatte bei mir den gleichen Effekt wie bei meinem Freund. Ich saß nicht wirklich mit offenem Mund da, aber so nennt man das umgangssprachlich, was die 9 1/2 Minuten Madonna Performance bei mir erzeugten. Es war faszinierend.
Es ging um Zerstörung, um Krieg, um die Gesinnung, die Tod und Gewalt hervorbringt, um Abgründe, um die Aufforderung hellwach zu sein. Es ging um Israel und den 3. Tempel.
Im ersten Teil des Auftrittes, der von einer Art Mönchen in einer Kathedrale eingerahmt war, werden symbolisch die beiden legendären Säulen Jachin und Boas des Salomonischen Tempels hineingetragen, die dann wie Raketenabschussrampen auf der Bühne stehen. Madonna trägt eine Augenklappe, die einige Kommentatoren als Verweis auf Moshe Dayan interpretierten, was sicher richtig ist. Moshe Dayan war Kriegsheld Israels und 1967 im Sechstagekrieg Verteidigungsminister. Die Fotos von ihm in Uniform und Stahlhelm, wie er nach der Eroberung des einst jordanischen Jerusalems mit israelischen Fallschirmjägern den Tempelberg betrat, wo einst der Salomonische und dann der Herodianische Tempel standen, sind ikonische Bilder der israelischen Geschichte. Die berühmte Klagemauer war die Westseite des wichtigsten jüdischen Tempels aller Zeiten.
Nach der Eroberung zerstörten die Israelis das marokkanische Viertel mit Bulldozern, so entstand der heutige Platz vor der Klagemauer, den man aus Fernsehberichten kennt. Auf dem Tempelberg steht der Felsendom und die Al Aqsa Moschee der Muslime. Der Tempelberg ist eine Ansammlung von Heiligtümern und wird von allen 3 monotheistischen Religionen beansprucht, der Felsendom war einst die Kirche der Tempelritter. Es ist ein hochbrisanter Ort, an dem Desaster darauf warten, zu geschehen.
Es gab und gibt Israelis, die den jüdischen Tempel wieder aufbauen wollen, was der Erklärung eines religiösen Krieges gleichkäme. Sie sprechen vom 3. Tempel, denn nach dem salomonischen gab es ja am selben Ort noch den gigantischen herodianischen Tempel. Der 3. Tempel ist ein geladener Begriff, selbst die zionistische Terror oder – je nach politischer Einordnung – die zionistische Unabhängigkeitsbewegung Lechi, die den schwedischen UN Sondergesandten und Retter tausender Juden im 2. Weltkrieg, Graf Folke Bernadotte, ermordete, hatte die Errichtung des 3. Tempels als Endziel ihrer Aktivitäten benannt.
Andere Juden, die Mehrheit, glauben, dass der 3. Tempel erst mit der Ankunft der messianischen Zeit entstehen könne.
Moshe Dayan nannte den Staat Israel den 3. Tempel. Israel hatte im Sechstage-Krieg die arabischen Staaten angegriffen, unmittelbar, nachdem es die ersten 2 Atombomben gebaut hatte. Seitdem war es Atommacht. 1973 wurde Israel im Jom Kippur Krieg von Ägypten und Syrien angegriffen und stand vor der militärischen Niederlage, die Araber waren scheinbar nicht aufzuhalten, den israelischen Streitkräften ging die Munition aus.
In dieser Situation wollte Moshe Dayan, der in Panik geraten war und immer wieder ausrief: „Das ist das Ende des 3. Tempels!“, die israelischen Atomwaffen einsetzen. In den wenigen existenten Berichten wird das meist kleingeredet und schöngefärbt, Dayan habe entweder nur eine nukleare Explosion in der Wüste demonstrieren oder die Waffen nur einsatzbereit machen wollen. US Experten hingegen sprechen davon, dass das israelische Militär seine Atomraketen in Abschussstellung brachte und Flugzeuge mit Atombomben bewaffnete, um Kairo und Damaskus auszulöschen.
Tatsächlich beendete die damalige Präsidentin Golda Meir diese Planungen und erreichte durch die nukleare Drohung eine Zusage der USA, Israel über eine Luftbrücke mit Munition und Waffen zu versorgen und die Niederlage abzuwenden.
Auf diese Ereignisse und die spätere Samson-Option, so heißt die israelische Nuklearstrategie, die selbstmörderische nukleare Vernichtung der gesamten Welt, sollte Israel in Gefahr sein, ausgelöscht zu werden, spielt Madonna mit ihrer Performance an.
Die Darsteller tragen Gasmasken, die Hintergründe zeigen den nuklearen Feuersturm und Ruinen, die an 9/11 und „The Day After“ erinnern, die Darstellung des Atomkrieges im Fernsehen. Es ist viel nuklearer Totentanz und Vernichtung in ihrer Bühnenshow zu sehen. Das ist Bühneneffekt, aber nicht unrealistisch. Seit einigen Jahren sind Hybris, sozialdarwinistische und faschistische Rhetorik, sowie machiavellistische Machtpolitik in Israel zu beobachten.
Am Ende stürzen die Tänzer und Sänger ins Nichts, nur zwei Darsteller mit einer israelischen und palästinensischen Fahne gehen gemeinsam von der Treppe zur Seite. Und als Madonna und der Rapper Quavo rücklings in Nichts stürzen, sagt sie „Wake Up“, was auch als Schrift erscheint.
Obwohl die Ruinen der ausgebrannten Städte, die Feuerwalzen und die Gasmasken der Tänzer überdeutlich waren, obwohl der Text ihres neuen Songs lautet: „Nicht jeder kommt in die Zukunft, nicht jeder lernt aus der Vergangenheit“, wozu sie in einer weit ausholenden Bewegung ins Publikum zeigte, trotz alledem herrscht absolute Stille in den Medien über diesen Aspekt ihrer Performance.
Worüber berichtet wird: ein bisschen Augenklappe/Moshe Dayan, ein bisschen 2 kleine Fahnen, eine israelisch, eine palästinensisch auf dem Rücken zweier Tänzer, was die Bildzeitung eilfertig kritisierte, denn es löse Empörung in Israel aus – das war es.
Ansonsten waren sich alle einig, dass es eine katastrophale Performance war.
Mir ging es nicht so. Ich dachte: OK, in Zeiten der strafrechtlichen Verfolgung der Boycott Kampagne gegen Israel, der Kriegspolitik der einzigen Atommacht im Nahen Osten, des massenhaften Mordes an Demonstranten, Journalisten, Notfallsanitätern und Kindern an der Grenze zu Gaza, in Zeiten der israelischen Einmischung inklusive Regime Change Versuch sogar im afrikanischen Botswana, das wegen seiner Diamanten wirtschaftlich wichtig ist, in Zeiten, in denen israelische Software-Firmen von Ex-Spionen den Markt der Überwachungs- und Spionagetechnologie weltweit dominieren, ist das ein politisches Statement einer Künstlerin. Eine Stellungnahme gegen Krieg, gegen das Schlafwandeln in den nuklearen Krieg Konflikt hinein.
Madonna wird in einigen Kommentaren vorgeworfen, noch nie eine Meisterin des Subtilen gewesen zu sein. Aber offenbar war diese Symbolik nicht deutlich genug. Die meisten Journalisten haben gar nichts verstanden.
Oder haben sie es verstanden, trotzdem darauf verzichtet, es zu berichten, aber ihre Kritik fiel deswegen so vernichtend wie noch nie aus? Ohne die wahre Anklage zu benennen, aber mit der maximalen Strafe?
In der letzten Woche hat der Bundestag per Gesetz die Boykott, De-Investment und Sanktionen Bewegung als antisemitisch definiert und damit in den Bereich der strafrechtlichen Verfolgung gerückt. Mit den Stimmen aller Parteien. Die AfD hat sogar einen eigenen Entwurf eingebracht, um sich an die Spitze dieser Bewegung zu stellen.
Ich würde gerne von schwarzen Südafrikanern wissen, die gegen die Apartheid gekämpft haben, unter Einsatz ihres Lebens und ihrer Existenz, wie sie die Boycott Divestment and Sanctions Bewegung beurteilen. Sie sind die Experten in Sachen Apartheid, Rassismus und Demokratie, auf jeden Fall kenntnisreichere Experten als die Mitglieder einer rechtsradikalen israelischen Regierung.
Und ich frage mich, wann die deutschen Parteien endlich den untauglichen Versuch beenden, das 3. Reich nachträglich verhindern zu wollen, wobei jede Partei ihre Konkurrenten in diesem Feld noch zu übertrumpfen versucht. Eine Einstellung, die heute keinen Mut mehr braucht. In den 50er und 60er Jahren, als das bitter nötig war, brauchte man feste Überzeugungen und Leidensfähigkeit, um den Seilschaften der Altnazis entgegenzutreten. Heute fällt es schwer, Nazis in Machtpositionen zu finden, was aber die Suche immens anzustacheln scheint.
Das Hauptproblem der Gewalt gegen irgendwie Andersartige ist stets die Einstellung, die sie möglich macht, die wichtigste akute Aktion ist die Verhinderung von Gewalt. Dafür braucht es Zivilcourage, Gerechtigkeitswillen und Mut zur tätigen Solidarität. Man könnte auch sagen, es braucht Menschen mit Herz und Verstand, die zupacken können. Diese Voraussetzung bleibt. Aber die Verhältnisse bleiben nicht, wie sie sind. Die Objekte der Repression ändern sich mit den Machtverhältnissen.
Zu verstehen, wogegen sich Sophie Scholl heute wenden würde, wogegen sie mit ihrem untrüglichen moralischen Kompass, ihrer Entschlossenheit heute rebellieren würde, ist eine lohnende Frage.
Ich glaube nicht, dass sie zu denen gehörte, die in fein ausgearbeiteten Argumentations-Girlanden entschuldigen, wenn ein beinamputierter palästinensischer Rollstuhlfahrer von einem israelischen Scharfschützen mit einem Kopfschuss ermordet wird, und das folgenlos bleibt, und ähnliche Verbrechen in Serie begangen werden, in hunderten Fällen, in tausenden Fällen. Menschenrechte sind immer die Menschenrechte der Unterdrückten. Nicht der Unterdrücker. Die wissen ihre Rechte durchzusetzen, bis das Blut spritzt.
Schutz und tätige Solidarität brauchen die Underdogs, die Menschen, die einen Stiefeltritt ins Gesicht abbekommen, nicht die Stiefelträger. Das kann ein Jude in der Berliner S-Bahn sein, oder – tausendfach – ein Palästinenser oder eine Palästinenserin in Gaza. Es sind nicht immer die selben, die Stiefel tragen und die sie abbekommen. Die Zeiten ändern sich. Die Machtverhältnisse ändern sich.
Zivilcourage aber ist immer ein knappes Gut. Stiefellecker, Opportunisten und Denunzianten gibt es für 20 Cent an jeder Ecke, auch in jedem Parlament. Man erkennt sie an der Nähe zur gewaltbereiten Macht.
Menschen wie Hans und Sophie Scholl sind Solitärdiamanten. Man erkennt sie an der Nähe zur Inhaftierung, zum Schafott und der Distanz zur Macht.
Es geht immer um Macht und ihren Missbrauch. Es geht darum, den Schwachen zu helfen. Israel kann sich sehr gut selbst helfen, es ist so mächtig wie kein anderes Land dieser Region, es agiert aus einer Position absoluter strategischer Überlegenheit, auch ohne Nuklearwaffen. Es wird nicht unterdrückt.
Es sollte also gerade für Journalisten nicht darum gehen, dabei zu helfen, den Machtbereich einer Nuklearmacht ständig zu erweitern und gleichzeitig immer weiter gegen Kritik zu immunisieren.
Israel ist wahrscheinlich die viertstärkste Atommacht der Welt. Eine Atommacht, die keinerlei Angaben macht, keine Abkommen unterschrieben hat, offiziell gar keine Nuklearwaffen besitzt, aber ausgerechnet Apartheid-Südafrika bei der Nuklearwaffenentwicklung unterstützte und dem Regime sogar Nuklear-Sprengköpfe angeboten hat.
Die israelischen Nuklearwaffen und die Kriegsgefahr im Nahen Osten sind ein Thema, dass uns auch angeht, von dem wir mehr betroffen sind als von den nordkoreanischen Nuklearwaffen, bei denen die Informationslage durchaus üppig ist.
Ich wüsste gerne, wer die Israelis sind, wo sie sind, mit denen man in diesem Geist zusammenarbeiten kann. Menschen, denen es um Menschen und Menschlichkeit geht, um Gerechtigkeit, um Augenhöhe zu anderen Menschen, um die Abwesenheit von Gewalt, die Frieden möglich machen könnte. Es gibt sie, ein paar habe ich kennengelernt. Es muss noch viel mehr geben.
In diesem Sinne wird „Future“ von Madonna bei mir Effekte haben, wenn ich das Stück im Autoradio hören werde. Meine Achtung vor Madonna ist mit diesem Auftritt gewachsen, den andere als ihre Bankrotterklärung bezeichnen. Nicht nur, weil mir das minimalistische Reggaestück gefällt. Ich habe mir ihre Performance mehrfach angeschaut und angehört.
Ich war fasziniert, dass in Madonna eine Ahnung von Sophie Scholl zu spüren ist. Da ich nichts erwartet hatte, ist es mehr Substanz, als ich vermutet hatte. Und sie hat doch recht, oder? Und irgendwo in Israel und in Gaza hört es jemand im Autoradio, der so denkt wie ich.
Not everyone is coming to the future
Not everyone is learning from the past