Die Bündnisfrage
04. MAI 2020
german-foreign-policy
(Eigener Bericht) – Die Vereinigten Staaten und transatlantisch orientierte Kreise in Deutschland erhöhen den Druck auf Berlin, sich an einer “Abkopplung” des Westens von China zu beteiligen…
Hintergrund sind die globalen Machtverschiebungen, die sich in der Coronakrise abzeichnen: Während China die Talsohle inzwischen offenkundig hinter sich gelassen hat und schon wieder auf ein Wirtschaftswachstum zusteuert, ist eine Besserung der Lage in den USA und in Europa noch nicht in Sicht.
Beobachter mutmaßen, “Einfluss und Bedeutung” der westlichen Mächte würden vermutlich “weiter schwinden”. Während in Washington mittlerweile überlegt wird, der Volksrepublik die Staatensouveränität abzuerkennen, um Entschädigungsklagen zu ermöglichen, suchen starke Kräfte in der deutschen Wirtschaft den Ausweg aus der Krise im Chinageschäft.
“Ein neues Systemduell”
Die globale Machtverschiebung, die sich mittlerweile in der Coronakrise abzeichnet, wird in der deutschen Öffentlichkeit zunehmend thematisiert. Unter der Überschrift “Vor der Wachablösung?” hieß es in einer führenden Tageszeitung bereits Mitte vergangener Woche, die “meisten” Beobachter gingen davon aus, “Einfluss und Bedeutung der Vereinigten Staaten (und Europas)” würden “weiter schwinden”. Zugleich meinten viele, China werde “seinen Aufstieg zur Spitze von Weltpolitik und Weltwirtschaft unbeirrt fort[setzen]”. Am Wochenende urteilte eines der größten deutschen Nachrichtenportale unter der Überschrift “Die Wachablösung”, in der Coronakrise verlören “die USA weiter an Führungskraft”: “Die Pandemie könnte den Beginn des chinesischen Zeitalters begründen.” Habe es zunächst eine Zeitlang so ausgesehen, “als würde der Ausbruch des Coronavirus China um Jahre zurückwerfen”, so sei es nun “US-Präsident Donald Trump, der nahezu Tag für Tag … der Welt erklären muss, warum sein Land die Seuche nicht in den Griff bekommt”. Das Portal stellt die Frage: “Steht der Welt … ein neues Systemduell bevor, ein neuer kalter Krieg?”
US-Geheimdienstinformationen
Tatsächlich reagieren die Vereinigten Staaten auf den sich abzeichnenden Machtverlust mit einer Verschärfung ihrer Attacken gegen Beijing. Am vergangenen Donnerstag behauptete US-Präsident Donald Trump, es gebe Hinweise, denen zufolge das Covid-19-Virus aus einem Labor in Wuhan stamme. Wissenschaftler weisen diese Spekulation seit Wochen entschieden zurück; dennoch sind, wie berichtet wird, inzwischen US-Geheimdienste damit befasst, angebliche Beweise für sie aufzutreiben, um den Druck auf Beijing weiter zu erhöhen. Trump hat mitgeteilt, er schließe neue Maßnahmen gegen die Volksrepublik nicht aus; in Frage kämen etwa weitere Strafzölle.
Bereits zuvor war berichtet worden, in Washington werde unter anderem darüber nachgedacht, Schulden, die man in China habe, zu streichen; freilich wurde dies offiziell dementiert.
Ebenso hatte es geheißen, die Trump-Administration könne der Volksrepublik in einem Akt bislang beispielloser Selbstanmaßung die Staatenimmunität aberkennen; dies gilt als wichtige Voraussetzung für Schadensersatzklagen gegen Beijing wegen der Covid-19-Pandemie, die seit einiger Zeit in den USA und in anderen westlichen Staaten gefordert werden. Gestern hat US-Außenminister Mike Pompeo die Behauptung wiederholt, es gebe “umfangreiche Belege” für die angebliche Herkunft des Virus aus einem Labor in Wuhan. Freilich sind Lügen von US-Regierungspolitikern mit Bezug auf erfundene Geheimdienstinformationen seit vielen Jahren notorisch. In diesem Fall ist es besonders bemerkenswert, dass bislang die US-Dienste den Behauptungen der Administration zu der Herkunft des Virus sogar offiziell widersprochen haben.
Gespaltene deutsche Wirtschaft
Der Druck auf Berlin und die EU, sich an der Seite Washingtons aggressiv an den Attacken gegen Beijing zu beteiligen, nimmt zu. So forderte die transatlantisch orientierte Springer-Presse bereits kürzlich von China “Entschädigung” für Schäden, die im Westen durch die Pandemie entstehen.
Zugleich zeichnet sich ab, dass die EU durch die Krise im globalen Machtkampf am weitesten zurückgeworfen wird. So warnte der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell vergangene Woche, die Wirtschaftsleistung der USA werde nach Berechnungen des Peterson Institute for International Economics aus Washington dieses Jahr um 8 Prozent einbrechen, diejenige der EU sogar um 12 Prozent, während die chinesische Wirtschaft um 1,5 Prozent wachsen werde.
Die dramatische Krise und der drohende globale Positionsverlust stürzen die deutsche Industrie in ein Dilemma. Während sie in den USA ihren mit Abstand größten Investitionsstandort und ihren bedeutendsten Absatzmarkt hat, zeichnen sich Chancen, der Krise zu entkommen, aktuell nicht dort, sondern lediglich in China ab, dessen Wirtschaft schon wieder rund zu laufen beginnt.
Die deutsche Industrie ist tief gespalten.
Bereits vergangenes Jahr hatte in einer Umfrage unter Spitzenkräften aus deutschen Unternehmen nur die Hälfte geantwortet, im Falle eines Falles – dann, wenn man sich zwischen beiden entscheiden müsse – ziehe man die Kooperation mit den Vereinigten Staaten derjenigen mit China vor.
Rund ein Drittel hingegen gab an, sich auf Seiten der Volksrepublik zu positionieren. Das Land ist inzwischen wichtigster Handelspartner und drittgrößter Investitionsstandort der deutschen Wirtschaft – mit weiterhin rasch wachsender Tendenz.
“Die ökonomische Falle”
In dieser Situation setzen Transatlantiker zweierlei Hebel an. Der eine macht sich das Interesse Berlins und Brüssels zunutze, zu einer eigenständigen Weltmacht zu werden, die freilich über eine starke eigenständige Industrie verfügen muss.
“Es besteht kein Zweifel daran, dass China aktuell versucht, die Covid-Krise zu seinem geopolitischen Vorteil zu nutzen”, schrieb der frühere NATO-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen vergangene Woche in einem Beitrag in einer führenden deutschen Tageszeitung. Dabei setze Beijing eindeutig auf die Ökonomie.
Chinas Strategie basiere “auf einem entscheidenden Vorteil”:
“Lange vor dem Westen” werde das Land “den Gipfel dieser Pandemie überwunden haben und wieder handlungsfähig sein”. Es werde “Produkte auf unsere Märkte werfen” können, “um unsere zur Untätigkeit verdammten Firmen weiter zu untergraben”, oder auch “strategische Investitionen” tätigen können – nämlich strategisch wichtige Firmen aus der krisengeschüttelten EU “zu einem Schnäppchenpreis” übernehmen. Das gelte es aktuell zu unterbinden: Es sei “unerlässlich, dass Europa jetzt einen Kurswechsel unternimmt – um zu verhindern, dass der Westen schlafwandelnd in die ökonomische Falle einer kommunistischen Diktatur tappt”.
“Ein Irrweg”
Der andere Hebel besteht in der Einforderung transatlantischer Bündnistreue, die – wie seit dem ersten Kalten Krieg üblich – mit angeblichen Werten (“Freiheit”, “Demokratie”) überhöht wird.
In diesem Sinne hat sich am gestrigen Sonntag der Vorstandsvorsitzende der Axel Springer SE, Mathias Döpfner, zu Wort gemeldet. “Wenn eine Therapie gegen das Virus gefunden ist, die Shutdown- und Lockerungsdebatten verklungen sind und die Rezession ihr hässliches Gesicht zeigt, muss nichts Geringeres geklärt werden als die Weltordnung”, behauptet Döpfner. “Konkreter” gehe es um “die Bündnisfrage”:
“Wo steht Europa?
An der Seite Amerikas oder an der Seite Chinas?”
Ein “Sowohl-als-auch” sei nicht mehr möglich; “die Bündnisfrage” sei “entscheidungsreif”. Nun hätten sich die USA “klar für eine Politik des Decouplings entschieden”, also “eine Abkoppelung und zunehmende Unabhängigkeit von China”. Dem müsse sich “Europa” anschließen.
Döpfner räumt ein, dies werde “teuer”; schließlich verzeichne allein die deutsche Wirtschaft “mit China ein jährliches Handelsvolumen von rund 200 Milliarden Euro”.
Doch “eine Abkopplung von den USA” werde “uns wirtschaftlich und sicherheitspolitisch wesentlich härter treffen”.
Die Coronakrise mit ihren ökonomischen Verwerfungen biete nun “eine einmalige Gelegenheit zur Korrektur eines Irrwegs”.
Quo Vadis Europa?
Globalisierung eröffnet riesige Chancen auf dem Wege der Beseitigung von Hunger, Elend und Armut in der Welt.
24.03.2007
Franz Bernhard Nolte