8.12.2017
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von Leo Ensel
Im Herbst 1983 trat der Kalte Krieg in seine heißeste Phase. Nachdem US-amerikanische Spionageflugzeuge in den Wochen und Monaten zuvor wiederholt die Luftabwehr der Sowjets provoziert hatten, schoss das nervös gewordene sowjetische Militär am 1. September im Fernen Osten über der russischen Insel Sachalin die vom Kurs abgekommene südkoreanische Passagiermaschine KAL 007 versehentlich ab. Der damalige US-Präsident Ronald Reagan ließ es sich nicht nehmen, die 269 toten Passagiere als neuerlichen Beweis für die Unmenschlichkeit des von ihm so genannten „Reich des Bösen“ zu vereinnahmen.
Dreieinhalb Wochen später, in der Nacht vom 25. auf den 26. September1983, schrillten um 0:15 Ortszeit im Satellitenkontrollzentrum bei Moskau die Sirenen. Insgesamt fünfmal hintereinander meldete das Frühwarnsystem einen Start amerikanischer Interkontinentalraketen. Nur dem besonnenen Verhalten des diensthabenden Offiziers Stanislaw Petrow, der die Nerven behielt und – wie sich später herausstellte, richtigerweise – der Militärführung einen Fehlalarm aufgrund eines Computerirrtums meldete, ist es zu verdanken, dass der Welt mit hoher Wahrscheinlichkeit ein Atomkrieg aus Versehen erspart blieb!
Und vom 2. bis 12. November simulierte die NATO im Rahmen des Manövers „Able Archer 83“ den Atomkrieg gegen die Sowjetunion unter so realistischen Bedingungen, dass Staats- und Parteichef Jurij Andropow, von einem unmittelbar bevorstehenden amerikanischen Überraschungsangriff fest überzeugt, die sowjetischen Bomber in der DDR und Polen startklar machen und – einmalig in der Geschichte des Kalten Krieges – mit scharfen nuklearen Sprengköpfen bestücken ließ. Auch hier hat die Welt großes Glück gehabt, wenn es stimmen sollte, dass ausgerechnet der ins NATO-Hauptquartier eingeschleuste DDR-Topagent Rainer Rupp alias „Topas“ der Sowjetführung noch rechtzeitig vermelden konnte, dass es sich bei „Able Archer“ tatsächlich nur um eine Übung handelte.
NATO-„Nachrüstung“ mit erheblichen Folgen
Ende des Jahres begann die NATO im Rahmen der sogenannten „Nachrüstung“, atomar bestückte Mittelstreckenraketen (108 Pershing II und 664 Cruise Missiles) in Westeuropa zu stationieren, die auf strategische Ziele im Westen der Sowjetunion gerichtet waren. Was der westlichen Bevölkerung als Maßnahme zur Wiederherstellung des Gleichgewichts gegen die auf Westeuropa zielenden sowjetischen SS-20-Raketen verkauft wurde, brachte den USA einen gefährlichen strategischen Vorteil:
Erstmals seit der Kubakrise konnte die eine Supermacht die andere unmittelbar vor deren Haustür atomar bedrohen, wodurch sich die Vorwarnzeiten drastisch verkürzten – von einer halben Stunde bei Interkontinentalraketen auf acht Minuten!
Wie zu erwarten, zog der Warschauer Pakt kurze Zeit später nach, indem er atomare Kurzstreckenraketen in der DDR und der Tschechoslowakei stationierte, die ihrerseits auf die in der Bundesrepublik, Belgien, England und Italien aufgestellten Pershing II-Raketen und Cruise Missiles zielten, wodurch sich die Vorwarnzeit nochmals auf atemberaubende vier Minuten verkürzte.
Mitte der Achtziger Jahre lagerten allein in Westeuropa 7.300 amerikanische Atomsprengköpfe, davon schätzungsweise mehr als 5.000 in der Bundesrepublik Deutschland. (Analoge Zahlen für den Warschauer Pakt konnte ich bislang nicht eruieren.)
Damit hatten beide Seiten mitten in Europa ein gigantisches Pulverfass mit brandgefährlichem Selbstzündungspotential installiert. Der Zeitraum für menschliche Entscheidungen in Krisenfällen war fast auf Null geschrumpft. Ein weiterer Computerirrtum wie der vom 26. September 1983 wäre höchstwahrscheinlich nicht mehr so glimpflich verlaufen. Ein Atomkrieg zwischen beiden Supermächten, ob intendiert oder versehentlich, hätte mindestens die gesamte Nordhalbkugel in eine Wüste verwandelt – mit unabsehbaren Folgen für den gesamten Planeten. In Europa, namentlich in beiden deutschen Staaten, wäre kein Stein auf dem anderen geblieben.
Es war die im Frühjahr 1985 an die Macht gelangte sowjetische Administration um Michail Gorbatschow, die den Mut hatte, die völlig verfahrene Lage illusionslos zu analysieren, ihr ein „Neues Denken“, das dem Überleben der gesamten Menschheit absolute Priorität einräumte, entgegenzusetzen und das Ruder beherzt herumzureißen. Und es war kein Zufall, dass die zahlreichen Abrüstungsofferten Gorbatschows immer wieder die atomar bestückten Mittel- und Kurzstreckenraketen ins Visier rückten.
Nach zwei, zum Teil sehr turbulent verlaufenen Gipfeltreffen (November 1985 in Genf und Oktober 1986 in Reykjavik) gelang beim dritten Treffen von Reagan und Gorbatschow in Washington endlich der Durchbruch: Am 8. Dezember 1987 unterzeichneten die Staatschefs der beiden Supermächte den Intermediate Range Nuclear Forces-Vertrag, den ersten Abrüstungsvertrag in der Geschichte des Kalten Krieges!
Mit dem INF-Vertrag verpflichteten sich beide Seiten, erstmals eine komplette Waffengattung zu verschrotten:
Alle landgestützten Nuklearraketen und Marschflugkörper kürzerer (500–1.000 km) und mittlerer (1.000–5.500 km) Reichweite sowie deren Abschussvorrichtungen und Infrastruktur wurden im Laufe der folgenden drei Jahre zerstört. Konkret:
Unter wechselseitiger Kontrolle vernichteten die USA 846 und die Sowjetunion 1.846 Systeme. Der Vertrag verbot zudem die weitere Herstellung dieser Waffengattung.
Der INF-Vertrag erwies sich als Startsignal für weitere signifikante Abrüstungsschritte. Im Sommer 1991 vereinbarten Michail Gorbatschow und Reagans Nachfolger George Bush im Rahmen des START I-Vertrages, die Zahl ihrer strategischen Waffensysteme drastisch zu reduzieren. Insgesamt verringerten unter der Ägide Gorbatschows beide Supermächte ihr nukleares Arsenal um 80 Prozent!
Gegenwart: Vertrag gerät immer stärker unter Beschuss
Es muss daher alarmieren, wenn ausgerechnet der INF-Vertrag, der mittlerweile genau drei Jahrzehnte lang die akute Atomkriegsgefahr in Europa gebannt hat, immer stärker publizistisch – und möglicherweise auch real – unter Beschuss gerät. Und wie gehabt geben sich beide Seiten gegenseitig die Schuld. Ausgerechnet am 1. September diesen Jahres zitierte die Süddeutsche Zeitung ausführlich aus einem geheimen NATO-Dossier, das vom Bündnis an die Mitgliedsstaaten versandt worden war.
Unter dem Titel „Was wäre wenn?“ werden dort insgesamt 39 diplomatische und militärische Vorschläge aufgelistet, wie auf eine angebliche Verletzung des INF-Vertrages durch Russland zu reagieren sei. Der Vorwurf:
Russland habe einen neuen bodengestützten Marschflugkörper namens SSC-8 entwickelt, getestet und später auch stationiert. Allerdings wird nirgends die Reichweite dieses fiktiven oder realen Flugkörpers angegeben, so dass schon aus diesem Grund unklar bleibt, ob der INF-Vertrag überhaupt tangiert würde.
Ähnlich unspezifisch ist der westliche Vorwurf, die russische Iskander-Rakete 9K720 (NATO-Bezeichnung: SS-26-Stone) könne möglicherweise das Reichweitenlimit von 500 km übertreffen.
Sehr konkret dagegen sind die vorgeschlagenen militärischen Maßnahmen, die durch kreative Auslegung zwar noch nicht gegen den Buchstaben, umso mehr jedoch gegen den Geist des INF-Vertrages verstoßen und so die angespannten Beziehungen zu Russland weiter verschärfen würden:
Sie reichen von verstärkter Rotation von B-2- und B-52-Bombern aus den USA nach Europa, einem Ausbau der Frühwarnsysteme und der Raketen- oder U-Boot-Abwehr. Besonders heikel sind zwei Überlegungen:
die sogenannte nukleare Zielplanung auszubauen – also bereits die Ziele für Atomwaffen aufzuklären und festzulegen. Hier rät auch die Nato zur Vorsicht. Anders als bei dem Gedanken,
die Einsatzbereitschaft für jene Flugstaffeln zu erhöhen, die im Kriegsfall die Bomben abwerfen würden. Im Rahmen der sogenannten ‚nuklearen Teilhabe‘ könnte dies auch auf deutsche Piloten zukommen, zu diesem Zweck lagern bis heute auch amerikanische Bomben vom Typ B 61 auf einem von der Bundeswehr betriebenen Standort im rheinland-pfälzischen Büchel.
Zusammenfassend konstatierte die Süddeutsche:
Im Kongress wurden bereits die ersten gesetzgeberischen Schritte eingeleitet, dass die USA 2019 den INF-Vertrag aufkündigen könnten – dann würde drohen, dass die USA neue Raketen bauen und auch in Europa stationieren.
Raketenabwehrsystem provoziert Reaktion aus Moskau
Spätestens hier würde sich die Büchse der Pandora öffnen. Wie Russland reagieren würde, kann man sich an fünf Fingern abzählen. Dabei ist es kein Geheimnis, dass Russland selbst seit längerem den USA vorwirft, ihrerseits den INF-Vertrag zu unterlaufen. Anlass ist einmal mehr das sogenannte NATO-Raketenabwehrsystem, das die USA seit 2007 verstärkt vorantreiben, besonders dessen Module in Rumänien und Polen.
Die seien, so die russische Position, mit Startvorrichtungen ausgestattet, die in der Lage wären, nicht nur Abfangraketen, sondern auch offensive Tomahawk-Marschflugkörper abzufeuern. Obwohl angeblich gegen Raketen aus dem Iran gerichtet, habe die NATO nach dem Atomabkommen mit dem Iran keinen Grund gesehen, dieses offensichtlich obsolet gewordene Projekt auszusetzen. Dies verstärkt den russischen Verdacht, der Raketenabwehrschild habe sich in Wahrheit von Anfang an gegen Russland gerichtet. Auch hier kann sich jeder ausrechnen, wie Russland in der Logik der Abschreckungstheorie reagieren muss, sobald das System einsatzbereit ist.
Erschwerend kommt hinzu, dass aufgrund der veränderten geopolitischen Situation Russland seinerseits den INF-Vertrag als nicht mehr zeitgemäß betrachten könnte.
Seit 2007 mehren sich dort die Stimmen, andere Länder in Russlands Nachbarschaft wie Indien, Pakistan, China und Nordkorea hätten ihr Potenzial an Kurz- und Mittelstreckenraketen in den letzten 20 Jahren erheblich erweitert. Russland stehe also vor neuen Bedrohungen, denen die USA nicht ausgesetzt seien.
Druck von unten ist nötig
Was tun? Ausgerechnet das NATO-Dossier „Was wäre wenn“ hat hier unter der Rubrik „Diplomatische Überlegungen“ zur Abwechslung auch mal ein paar diskussionswürdige Vorschläge zu bieten:
Die Überlegungen kreisen darum, China und Indien einzubeziehen. Klug klingt auch der Gedanke, gegenseitig für volle Transparenz zu sorgen, womöglich gar Inspektionen zu erlauben. Amerikaner und Russen könnten sich dann vor Ort selbst ein Bild machen und überprüfen, ob es den von ihnen vermuteten Bruch des Vertrages wirklich gibt. Ein Muster also ähnlich den Inspektionen zum INF-Vertrag, die allerdings 2001 endeten.
Die Wiederaufnahme der Inspektionen könnte in der Tat ein konstruktiver Schritt aus der Misstrauensspirale heraus sein – unter der Voraussetzung, dass die Module des Raketenabwehrschilds der NATO miteinbezogen würden! Eine der wichtigsten Maßnahmen zur Deeskalation nennt das Papier aber bezeichnenderweise nicht: Ausbau und Inbetriebnahme des Raketenabwehrsystems ganz auszusetzen.
Dazu dürfte die NATO ohne massiven Druck aus der eigenen Bevölkerung auch so schnell nicht bereit sein. Mit anderen Worten:
Es bedarf einer kritischen Öffentlichkeit in allen Ländern, einer neuen Bewegung „von unten“ analog der Friedensbewegung der Achtziger Jahre, die zur Not beide Seiten erneut an den Verhandlungstisch zwingt und auf der Einhaltung von Buchstaben und Geist des INF-Vertrages besteht, der vor genau 30 Jahren Europa vor der Gefahr eines atomaren Infernos bewahrt hat!
Spätere Generationen, sollte es sie geben, würden uns niemals verzeihen, das Gorbatschowsche Erbe fahrlässig verprasst zu haben.
https://deutsch.rt.com/international/61864-30-jahre-inf-vertrag-ungewisse-zukunft-abkommen/