21. 09. 2020
Ist Kapital das, was in Form von Maschinen, Anlagen,
Grundstücken und Gebäuden Verwendung in der Produktion findet?
Oder ist es das Geld mit dem Güterproduzenten und die
Finanzbranche „arbeiten“? Oder beides?
... Kapital ist kein Produktionsmittel, sondern ein Eigentumsrecht auf die Erträge der Produktion. Kapitalisten ermöglichen nicht Produktion, sondern sie drücken aus Gewinninteresse die Produktion auf ein Niveau weit unterhalb der Menge, die technisch effizient und kostendeckend herstellbar wäre.
Das Kapital des Robinson Crusoe
Einführungslehrbücher der Ökonomie legen gern die
Grundlagen mit Beispielen aus der Einpersonenökonomie des auf einer einsamen
Insel gestrandeten Robinson Crusoe. Tun wir das also auch. Crusoe überlebe
zunächst, indem er Fische mit seinen Händen fängt. Weil das nicht sehr ergiebig
ist, sparte er sich einige Fische vom Mund ab, um an manchen Tagen, statt zu
fischen, ein Netz zu flechten. Damit kann er dann seinen Fischbedarf in sehr
viel kürzerer Zeit, mit weniger Arbeit decken.
Für Mainstream-Ökonomen ist das Netz ein
Produktionsmittel, auch Kapitalgut oder kurz Kapital genannt.
Gegen die Bezeichnung als Produktionsmittel ist nichts
einzuwenden. Gegen die Bezeichnung als Kapital schon. Denn Kapital Kapital,
so wie der Begriff gemeinhin verwendet wird, hat einen Vergütungsanspruch,
der demjenigen zusteht, der das Kapital bereitstellt. Nach der
vorherrschenden „neoklassischen“ Kapitaltheorie, die wir gleich noch näher betrachten
werden, bemisst sich dieser Vergütungsanspruch nach dem Anteil des Kapitals
am Produktionsergebnis, nach seiner „Produktivität“.
Was heißt das für Robinson? Sagen wir, er fängt Fische
unter Einsatz eigener Arbeit und einem Netz, das er selbst gebaut hat. Was er
fängt isst er. Es ist nicht möglich, zu ermitteln, welcher Anteil am Fang auf
die (direkte) Arbeit zurückgeht und welcher auf den Einsatz der
Fischfanggeräte. Ohne Arbeit ist der Ertrag des Netzes Null, ohne Netz ist der
Ertrag des Fischfangs sehr niedrig.
Es ist auch völlig unnötig und uninteressant für
Robinson, diese Anteile zu ermitteln. Das wird erst interessant, wenn eine
zweite Person ins Spiel kommt, zum Beispiel Freitag, den Robinson im Roman von
Daniel Defoe aus der Gewalt von Kannibalen befreit und zu seinem Diener macht.
Robinson bringe ihm bei, wie er ein Netz flechten und verwenden kann, um zur
Versorgung beider Fische zu fangen.
Von nun an stelle Freitag die Arbeit und Robinson das Knowhow
zur Herstellung des Produktionsmittels. Nun kann man von Kapital sprechen.
Aber nicht das Netz ist das Kapital, das einen Vergütungsanspruch hat, sondern
das ausschließliche (aber handelbare) Recht Robinsons auf die Nutzung des
Netzes.
Die Machtfrage ist zentral
Will man die Produktivität und den Wert des „Kapitals“
von Robinson bewerten, ist die relative Macht des vormaligen Sklavenhändlers
Robinson und seines Dieners Freitag von zentraler Bedeutung.
Es ist weiterhin unmöglich, objektiv festzustellen,
welcher Anteil des Fischfangs auf die Arbeit von Freitag und welcher auf das
mit Robinsons Knowhow gebaute Netz zurückgeht. Man kann damit starten, zu
vergleichen, wie viel weniger Fische Freitag ohne Netz an einem Tag fangen
würde. Aber ohne jemand, der das Netz auslegt und wieder einholt – etwas, was
Robinson entweder nicht tun kann oder nicht tun will – ist der Ertrag des
Netzes Null.
Wer wie viel vom Fang bekommt ist also Verhandlungssache.
Im Buch von Defoe steht Freitag in einem sklavenartigen Verhältnis zu Robinson.
Robinson kann also einfach Freitag so viele Fische zuteilen, wie er für
angemessen hält.
Es könnte auch anders herum sein. Wäre Robinson am
Verhungern, weil er selber keine Fische fangen kann, und müsste einem
selbstbewussten Eingeborenen anbieten, diesem gegen einen Anteil am Fischfang
beizubringen, wie man ein Netz baut, müsste sich Robinson vielleicht mit einem
Anteil zufrieden geben, der ihn gerade so am Leben erhält.
Von zentraler Bedeutung für die
Verhandlungsposition ist das Recht am geistigen Eigentum und am Eigentum
generell und die Macht, dieses durchzusetzen.
Ohne dieses Recht kein Kapital. Wenn Freitag das Netz
einfach nachbauen kann, sieht es schlecht aus für Robinsons
Kapitalistenanspruch. Wenn er nicht durch geistige oder körperliche
Überlegenheit (Macht) ein Recht an geistigem Eigentum etablieren und
durchsetzen kann, ist sein Kapital wertlos, auch wenn das Netz unverändert
produktiv ist oder sein könnte.
Robinson braucht also die Macht, Freitag zu hindern,
das, was er von ihm gelernt hat, selbst anzuwenden.
Diese zentralen Machtfragen werden in der
Lehrbuchökonomie nie angesprochen. Dabei werden sie nicht minder wichtig, wenn
wir zu einer komplexeren Wirtschaftsordnung mit vielen Menschen kommen – wie
dem Kapitalismus.
Diese Machtfragen verschwinden lediglich hinter einem
Schleier von als selbstverständlich hingenommenen institutionellen Regeln.
Diese sind aber nichts weiter als die in Institutionen geronnene Macht des
Robinson, seine Kapitalisteninteressen gegen die Arbeitnehmerinteressen des
Freitag durchzusetzen.
Durch den Schleier für selbstverständlich erklärter
Institutionen lässt die Ökonomik die Macht des Kapitals verschwinden und stellt
das Verteilungsergebnis als etwas dar, das sich in einem fairen und objektiven
Prozess herausbildet, bei dem alle die gleichen Chancen auf Wohlstand haben.
Das Kapital im Lehrbuch
Die Ökonomie-Lehrbücher nehmen einfach an, es gäbe
eine „Produktionsfunktion“, die bestimmt, wie groß das
Produktionsergebnis bei verschiedenen Einsatzmengen Arbeit und Kapital ist.
Dieser Funktion geben sie eine Form, mit der sich gut rechnen lässt. Was
Kapital ist, bleibt dabei der Fantasie des Betrachters überlassen. Die meisten
werden an Maschinen denken, andere an Geld.
Dank der angenommenen Formel lässt sich berechnen, wie
viel mehr Produkteinheiten (Fische) herauskommen, wenn man entweder den
Arbeitseinsatz um eine Einheit erhöht oder den Kapitaleinsatz.
Das Ergebnis wird Grenzproduktivität der Arbeit
beziehungsweise des Kapitals genannt.
Nach der neoklassichen Theorie sorgt der Markt dafür,
dass diese Grenzproduktivität, den Lohn der Arbeit und die Vergütung
des Kapitals bestimmt. Jeder bekommt, was er verdient.
So hat John Bates Clark das ausgedrückt, als er
diese Theorie um die Wende zum 20. Jahrhundert entwickelte. Er tat
das ausdrücklich mit dem Ziel, der Ausbeutungsthese der Marxisten etwas
entgegenzusetzen. Dass seine Theorie dafür so geeignet ist, erklärt ihre
andauernde Popularität, obwohl sie voller Widersprüche und Lücken steckt.
Die wichtigste und größte Lücke: Was eine Einheit
Kapital ist, bleibt aus gutem Grund offen. Ist es ein zweites Netz für
Robinson? Oder ein etwas größeres Netz? Diese Frage hat bis heute niemand
beantworten können. Ein Weinfass und ein Kran lassen sich einfach nicht
zusammenzählen. Man kann zwar den Marktwert der Kapitalgüter zusammenzählen,
aber das ist ein Trick, bei dem man das, was zu erklären ist – den
Wert – benutzt, um sich selber zu erklären.
In der sogenannten Cambridge-Capital-Kontroverse zwischen
den Neoklassikern von Cambridge, USA, und ihren Kritikern in Cambridge,
England, bei der es darum ging, zogen erstere anerkannter Maßen den Kürzeren
und mussten zugeben, dass ihre Kapitaltheorie nicht funktioniert und sie keine
Einheit für Kapital haben. Bis heute wird so getan, als hätte es diese
Niederlage und diese Einräumung nicht gegeben.
Ein weiteres Problem der Theorie: Das
Einsatzverhältniss von Arbeit und Kapital zu variieren ist nur in engen Grenzen
sinnvoll. Freitag kann nur ein Netz und nur eines bis zu einer bestimmten Größe
bedienen. Ihm ein zweites oder ein sehr großes Netz zu geben, bringt nichts.
Oder nehmen wir das Beispiel von Busfahrern (Arbeit) und Bussen (Kapital). Es
gibt ein vernünftiges Verhältnis von sagen wir zwei Busfahrern pro Bus, mit dem
sich alle Schichten abdecken lassen und die Beförderungsleistung effizient
produziert wird. Erhöht man das Verhältnis auf zwei Busse für zwei Busfahrer,
so bringt das eine Reserve für technische Probleme, sonst aber nicht viel.
Erhöhe ich die Anzahl der Busfahrer auf drei pro Bus, gilt das Gleiche. Es
leuchtet nicht ein, warum unter solchen Bedingungen die Grenzproduktivität von
Arbeit und Kapital die Höhe der Löhne und Rendite bestimmen sollte, selbst wenn
diese Grenzproduktivität bestimmbar wäre.
Ein Ökonom, der eine Produktionsfunktion mit Arbeit
und “Kapital” als Produktionsfaktoren einfach annimmt, und daraus seine
Schlussfolgerungen zieht, ignoriert solche elementaren Probleme. Die Formel
funktioniert ja auch hervorragend, selbst wenn sie keine Entsprechung in der
realen Welt hat. Und das Ergebnis ist politisch opportun für die
Mächtigen.
Geld arbeitet nicht und produziert nichts
Diejenigen, die in der realen Geschäftswelt mit dem
Kapitalbegriff hantieren, verstehen darunter einfach, was man in der Bilanz als
Eigenkapital und Fremdkapital (Schulden) auf der rechten Seite stehen
hat: das Geld, das der Kapitalist zur Verfügung hat. Typischerweise
hat das sehr wenig mit Maschinen und Anlagen zu tun. Der Wert der
Produktionsmittel ist oft im Verhältnis zum Gesamtkapital in diesem Sinne sehr
gering.
Bichler und Nitzan veranschaulichen das in “Capital as
Power” mit der Bilanz und dem Börsenwert von Microsoft. Dort standen
2005 Gebäude und Anlagen im Wert von 2,3 Mrd. Dollar in der Bilanz, bei
einem Börsenwert von 283 Milliarden Dollar. Nimmt man die Schulden
(Fremdkapital) hinzu, die im Börsenwert ja nicht enthalten sind, kommt ein
Gesamtkapitalwert von 306 Mrd. Dollar zusammen.
Wenig mehr als ein halbes Prozent geht auf den Wert
der Produktionsmittel zurück.
Der Rest sind immaterielle Produktionsgüter, was man
im großen und ganzen mit Rechten übersetzen kann. Niemand hat das Recht, die
Software von Microsoft zu kopieren und anzuwenden, ohne dafür hohe
Lizenzgebühren an Microsoft zu bezahlen.
Daran sieht man auch sehr schön, dass Kapital nicht
produktiv ist, sondern Produktion verhindert und begrenzt. Software lässt
sich praktisch kostenlos kopieren. Ohne das Kapital von Microsoft bzw. seiner
Besitzer würde sehr viel mehr Software produziert und angewendet.
Durch Produktionsbegrenzung schaffen es die
Besitzer von Microsoft, dass ihr Unternehmen zu dem gewinnträchtigsten und
wertvollsten der Welt gehört.
Das gilt nicht nur für Software. Auch die Manager von
Automobilunternehmen haben als Agenten der Kapitaleigner den Auftrag,
die Produktion unter die technisch kosteneffiziente Menge zu begrenzen,
damit die Autos zu gewinnmaximierenden Preisen verkauft werden können.
In diesem Sinne hat auch der berühmte Ökonom und
Soziologe Thorstein Veblen postuliert, dass das moderne Unternehmen nicht
entstanden ist, um die Produktivität – im Sinne einer möglichst großen
Bedürfnisbefriedigung mit vorhandenen Produktionsmitteln – zu erhöhen,
sondern um sie zu begrenzen.
Heute gilt dieses System weithin als so
selbstverständlich und alternativlos, dass es gar nicht mehr hinterfragt wird.
Als die Ökonomen noch genötigt waren, es zu verteidigen und zu
rechtfertigen, taten sie das mit dem Argument, dass es besser funktioniere als
alternative Systeme.
Zwar begrenze Microsoft aus Gewinnabsicht die
Produktion von kostenlos herstellbarer Software. Aber nur weil das möglich sei,
sei die Software so gut geworden, wie sie heute ist.
Ob das stimmt, ist eine Frage, die man nicht
allgemeingültig beantworten kann. Kapitalismus ist in gewissem Sinne etwas
graduelles. Im Spätkapitalismus, wenn die Kapitalisten lange Zeit hatten,
ihre zunehmende Macht einzusetzen, um sich immer mehr Rechte zu sichern, sind
die kapitalisierbaren Rechte so ausgeprägt, dass die Produktion und
Produktivität ernsthaft leidet.
Unternehmenswerte werden vor allem noch durch
Umverteilung geschaffen, indem der Anteil der Arbeitnehmer am
Produktionsergebnis gedrückt wird und die Gewinnmarge, die auf die
Produktpreise aufgeschlagen wird, zulasten der Konsument immer größer wird.
Wenn Urheberrechte sich bis 70 Jahre nach dem
Tod eines Autors erstrecken und noch dazu rückwirkend immer wieder
verlängert wurden, dann lässt sich dafür keine Begründung mit notwendigen
Anreizen mehr finden. Es ist klar, dass es hier nur um Umverteilung
zugunsten der Rechteinhaber geht.
Auf vielerlei Weisen wurden Rechte an geistigem
Eigentum in den letzten Jahrzehnten sowohl ausgedehnt als auch verstärkt
durchgesetzt.
Bei Patenten gibt es Patentdickichte aus strategischen
Patenten, die nur angemeldet werden, damit ein Unternehmen in Verhandlungen mit
einem anderen Unternehmen etwas hat, was das andere Unternehmen an der
Produktion hindern kann, sodass dieses andere Unternehmen einwilligen muss,
seinerseits die Nutzung eines Patents zu erlauben.
Branchen mit solchen Patentdickichten gleichen
Minenfeldern für kleinere und mittlere Unternehmen. Nur noch die größten
Unternehmen können es sich leisten, in diesen Branchen tätig zu sein. Die
Gewinnmargen sind dann entsprechend hoch. Mobiltelefonie ist ein Beispiel.
Der Börsenwert von Apple ist im Jahr 2020 binnen Monaten von einer
auf zwei Billionen Euro gestiegen.
These, dass Kapital kein Produktionsfaktor ist, der
hilft, Bedürfnisse der Bevölkerung zu befriedigen, sondern das Recht, einen
Teil der Produktion für sich zu reklamieren. Diese These wollen wir nun mit
Daten unterfüttern.
Am deutlichsten ist das bei Grund und Boden,
ohne den kein Wohnen und keine Produktion möglich ist. Das ist kein
Nebenaspekt.
Der Kapitalstock der deutschen Volkswirtschaft,
von 20 Billionen Euro, wie
er vom Statistischen Bundesamt ausgewiesen wird, besteht nur zu 2 Billionen
Euro, also einem Zehntel, aus “Fahrzeugen, Maschinen und sonstigen
Ausrüstungen”. 9,3 Billionen Euro entfallen auf Wohn- und
Gewerbeimmobilien, überwiegend Wohnimmobilien (Inlandsproduktberechnung S.60). Der große Rest besteht im
Wesentlichen aus geistigem Eigentum und militärischen Waffensystemen.
Das bestätigt noch einmal, was wir in Teil 1 gesehen
hatten, dass die Produktionsmittel, an die wir denken sollen, wenn von Kapital
die Rede ist, einen ganz geringen Anteil an dem ausmachen, was den Reichtum
und die Macht der (großen) Kapitalbesitzer ausmacht.
Pacht als Monopolpreis
Boden als eine Fläche
mit einer bestimmten Lage wird nicht produziert, sondern ist einfach da. Er
nutzt sich nicht ab und wird nicht abgeschrieben wie Maschinen und Anlagen.
Boden wird vielmehr immer teurer, weil er
im Zuge des Bevölkerungs- und Wirtschaftswachstums immer knapper und wertvoller
wird.
”Ein besseres Verständnis der Besonderheiten von
Boden kann uns helfen, drängendste gesellschaftliche Probleme anzugehen,
wie überhöhte Immobilienpreise, Ungleichheit und stagnierende Produktivität”,
verspricht Ryan-Collins und hat dafür mit Toby Lloyd und Laurie Macfarlane das
Buch “Rethinking the Economics of Land and Housing” geschrieben.
Der klassische Ökonom Adam Smith kommt in dem Buch mit
der Erläuterung zu Wort:
Die Grundrente ist natürlicherweise ein Monopolpreis.
Sie richtet sich nicht danach, was der Besitzer dafür ausgegeben hat oder was
er mindestens an Einnahmen braucht, sondern danach, was der Farmer sich leisten
kann zu zahlen.
Rente bedeutet im
Ökonomenjargon “leistungsloses Einkommen”, etwa im Wort „Monopolrente“.
Der Grundstücksbesitzer vergibt sein Grundstück an den, der bereit ist, den
größten Teil des Gewinns abzuführen, den man durch die Bewirtschaftung dieses
Grundstücks machen kann.
Preis oder Pacht
richten sich heutzutage vor allem nach der Lage und danach, welche Nutzungen
erlaubt sind. Mit Investitionen der Grundbesitzer haben sie meist sehr
wenig zu tun.
Wenn eine neue Straße oder S-Bahn gebaut wird, können
die Besitzer der erschlossenen Grundstücke den größten Teil des Vorteils
in Form höherer Grundstückspreise auf sich ziehen. Wenn die
Wirtschaftskraft und die Einkommen in einer Region steigen, profitieren
ebenfalls in starkem Umfang die Grundbesitzer. An den Kosten beteiligen müssen
sie sich meist nicht nennenswert.
Bevor jetzt die Hausbesitzer aufschreien, die ihr Heim
teuer und mit einer hohen Hypothek gekauft haben, sei betont: ja, es stimmt.
Die Banken und die Mechanismen des Kapitalismus sorgen dafür, dass diejenigen,
die nicht schon reich sind, sondern den Finanzsektor brauchen, um Hausbesitzer
zu werden, nur mit Glück und in begrenztem Umfang zu den Profiteuren des
Systems zählen. Sie müssen in Form hoher Kaufpreise, Zinsen und Zinseszinsen
so viel an die Vorbesitzer und die Banken bezahlen, dass sie zumindest lange
Zeit vom Lebensstandard her eher zu den Armen gehören als zu den Reichen. Aber
diese Gruppe macht nicht das Gros des Grundbesitzes aus. Sie ist eher der
politische Schutzwall vor den großen Vermögen, der dazu dient, Steuern auf
Grundbesitz und Vermögen abzuwehren.
Schon die klassischen Ökonomen wie Adam Smith
erwarteten und fürchteten, dass ein immer größerer Anteil der
Wachstumsdividende an die Grundbesitzer gehen würde. Steigende Mieten
und Pachten würden die Löhne und Produktionskosten nach oben treiben und
die wirtschaftliche Entwicklung bremsen. Für Marx war die Lösung klar: Verstaatlichung.
Smith plädierte, deutlich moderater, für Besteuerung
von Bodenwertsteigerungen. Die staatliche Steuerlast sollte so weit wie
möglich auf die Bezieher von Grundrenten fallen – statt auf Arbeitseinkommen
oder Einkommen aus Unternehmertätigkeit. Denn Monopolrenten zu
besteuern beschädigt Leistungsanreize nicht. Es drückt lediglich die
Netto-Bodenpreise im Umfang der Steuer.
In dem Aufsatz “The measurement of wealth” hat der frühere
Chefvolkswirt der Weltbank, Joseph Stiglitz, darauf hingewiesen, dass eine Zunahme
des Volksvermögens, die auf höhere Grundstückswerte zurückgeht,
in keiner Weise eine zusätzliche produktive Kapazität der Volkswirtschaft mit
sich bringt.
Es ist ein Scheinreichtum. Grundstücke
hätten im Kapitalstock nichts verloren.Jedenfalls im Kapitalstock des
neoklassischen Märchens, der einen wichtigen Beitrag zur Produktion leistet.
Ganz im Gegenteil dazu sind höhere Grundrenten
und damit höhere Grundstückspreise, wie schon Adam Smith wusste,
ein Hemmnis für die Produktion, weil sie diese unnötig teurer machen.
Direkt sichtbar ist das bei betriebsnotwendigen Grundstücken.
Aber auch wenn die Wohnkosten steigen wird die
Produktion teurer. Wer in einer Stadt produzieren will, in der das Wohnen teuer
ist, muss hohe Löhne und Gehälter zahlen,sonst können oder wollen es
sich seine Arbeiter und Angestellten nicht leisten, dort zu leben.
Was in der Statistik aufgrund einseitiger Erfassung
als Wohlstandsgewinn für die Nation, als Kapitalstock daherkommt, ist in
Wahrheit nur Umverteilung – oder, mit anderen Worten, ein Maß für die
Macht der Kapitalisten, sich Werte von anderen anzueignen..
Die höheren Grundstückwerte werden registriert. Die
höheren Kosten für die Mieter und Pächter jedoch nicht. So wird die Illusion
genährt, die Gesellschaft sei reicher geworden, wenn ein Teil von ihr
von einem anderen Teil mehr für die Nutzung der vorhandenen Grundstücke bekommt.
Weniger deutlich sichtbar gibt es ganz ähnliche
Zusammenhänge im Verhältnis von Unternehmen, Arbeitnehmern und Konsumenten.
Auch wenn Microsoft ein riesiges Vermögen in
Form von “Rechten an geistigem Eigentum” in die Kapitalstockrechnung
einbringt, so ist das nichts anderes als eine Zahlungsverpflichtung aller
Nutzer von Software, die die Produktion verteuert und die Konsumenten
schröpfen hilft.
Monopolgewinne bestimmen den Unternehmenswert
Die Betriebswirtschaftslehre nennt den Teil des Unternehmenswertes,
der vor allem auf exklusiven, staatliche geschützten Rechten beruht, auf
Englisch „Intangibles“, auf Deutsch „Immaterielle Vermögenswerte“.
Die Volkswirtschaftslehre hat auch einen Namen für den
Anteil, den Marktmacht am Kapitalwert eines Unternehmens ausmacht:
Tobins Q: Es misst, um
wieviel der gesamte Kapitalwert eines Unternehmens größer ist als der
Wiederbeschaffungswert seiner physischen Anlagen.
Der gesamte Kapitalwert ist dabei der Marktwert
eines Unternehmens, zum Beispiel an der Börse, plus seine Schulden
(das Fremdkapital).
Bichler und Nitzan zeigen in ihrem Buch “Capital as
Power”, dass es bei Tobins Q auf gesamtwirtschaftlicher Ebene im letzten
Jahrhundert lange und starke Wellenbewegungen gab, bei denen der Wert von
Q in den USA von 0,7 bis 2,8 schwankte. Die Bewertung des Kapitals aller
Unternehmen variierte also zwischen nur drei Vierteln des Wertes seiner
physischen Anlagen und fast dem Dreifachen dieses Wertes.
Bei den größten Unternehmen ist Tobins Q höher, denn
sie haben deutlich mehr Monopolrechte als die kleineren. Laut der Studie „The Power of Intangible Assets. An
Analysis of the S&P 500“ aus dem Jahr 2006 ist das Verhältnis
von Marktwert zum Wert der Anlagegüter bei den 500 größten, im Aktienindex S&P
500 gelisteten US-Aktiengesellschaften sogar vom 1,2-fachen im Jahr 1975
bis 2005 auf den Faktor 5 gestiegen.
Das heißt, der Anteil der nicht physisch
unterlegten, „intangiblen“ Werte am Marktwert ist bei den größten
Unternehmen auf 80 Prozent gestiegen.
Der von den Ökonomen nicht weiter erklärte immaterielle
„Rest“ macht den Großteil des Unternehmenswertes aus, die materielle
Basis erklärt ihn nur zu 20 Prozent.
„Intellektuelles Kapital ist zur
wichtigsten Klasse von Vermögenswerten in allen Industrieländern
geworden“, resümieren die Autoren.
Etwas aktueller kommen auch Gary Cokins und Nick
Shepard 2017 in „The Power of Intangibles“
zu dem Ergebnis, dass sich im S&P 500 das Verhältnis von greifbaren zu
immateriellen Vermögenswerten von 1975 bis 2015 von vier zu eins auf
eins zu vier umgekehrt hat, dass 2015 also 80 Prozent des Kapitalwerts der
größten US-Unternehmen aus „intellektuellem Kapital, Arbeitskräften,
Lieferketten und anderen Schlüsselbeziehungen“ bestand.
Mit Lieferketten und Arbeitskräften ist gemeint, dass
ein Unternehmen die Produktion auf eine Weise organisiert hat, die andere
nicht ohne weiteres imitieren können, weil sie nicht die gleichen
eingespielten Beziehungen zu Lieferanten und das gleiche eingespielte Team von
Arbeitskräften haben. Das sind Quellen von Übergewinnen, die nicht auf
staatliche Privilegierung zurückgehen. Sie dürfen jedoch keine allzu große
Rolle spielen. Denn im Gegensatz zu rechtlichen Verboten der Nachahmung
sind sie von Konkurrenten überwindbar, wenn ein Ertrag winkt, der groß genug
ist.
Investieren schadet dem Kapitalwert
Auf der Suche nach den Ursachen für die starken
Schwankungen des Anteils der immateriellen Werte am Unternehmenswert,
stellen Bichler und Nitzan fest, dass die Unternehmenswerte und der Wert der
physischen Anlagegüter tendenziell in gegenläufige Richtung bewegen.
Wenn viel investiert wird und der Anlagenwert
entsprechend hochgeht, sinkt tendenziell die Bewertung der Unternehmen
am Kapitalmarkt.
Wenn dagegen wenig investiert wird, steigt der
Unternehmenswert.
Zum gleichen überraschenden Ergebnis kamen auch drei
US-Ökonomen, die im Fachaufsatz „How the Wealth Was Won“
untersuchten, welche Faktoren in den beiden Perioden 1952 bis 1988 und 1989 bis
2017 den Börsenwert amerikanischer Aktiengesellschaften nach oben getrieben
haben.
In der früheren Periode waren die Produktionssteigerungen
hoch und der Anstieg der Aktienwerte gering. In der zweiten Periode wurde
die Produktion viel weniger ausgeweitet, aber die Börsenwerte der
Unternehmen schossen nach oben.
In Zahlen ausgedrückt: In den 29 Jahren von 1959 bis
Ende 1988 stieg die Wertschöpfung aller US-Unternehmen außerhalb des
Finanzgewerbes inflationsbereinigt um 4,5 Prozent pro Jahr, in den folgenden 29
Jahren nur noch etwas mehr als halb so stark um 2,5 Prozent. Der Börsenwert
all dieser Unternehmen stieg dennoch – oder gerade deswegen? – in der
aktuelleren Periode mit 8,4 Prozent pro Jahr fast doppelt so stark wie in der
früheren mit 4,5 Prozent.
Die drei Ökonomen stellen fest, dass sich die
Wertsteigerungen der Unternehmen bis 1988 statistisch zu 92 Prozent mit einer
steigenden Wertschöpfung erklären ließen. In den letzten knapp drei Jahrzehnten
nur noch zu einem Viertel.
Mehr als die Hälfte des Wertzuwachses sei dagegen
durch Umverteilung ökonomischer Renten “geschaffen” worden. Zu Deutsch: Die
Konsumenten müssen höhere Margen der Unternehmen finanzieren, die Arbeitnehmer
bekommen einen geringeren Anteil an der Wertschöpfung ihrer Unternehmen.
Jeweils elf Prozent der Wertsteigerung gingen auf zwei
weitere Faktoren zurück.
Gewinnmargen werden immer größer
Diese Ergebnisse passen zu einer jüngeren
wissenschaftlichen Literatur, die einen starken Anstieg der Gewinnmargen
großer Kapitalgesellschaften vor allem in den USA, aber auch in Europa,
dokumentiert.
Der Kontrast von kräftigem Gewinnanstieg und schwacher
Wirtschaftsentwicklung kann erklären helfen, warum die Unternehmen trotz der
hohen Gewinne und niedrigen Zinsen wenig investieren.
Zwei Weltbank Ökonominnen haben mit dem Aufsatz “The Rise in Corporate Saving and Cash
Holding in Advanced Economies” gezeigt, dass Treiber
dieser für die Lehrbuchökonomie rätselhaften Entwicklung vor allem die größten
Konzerne sind.
Deren Gewinne seien unter anderem wegen sinkender
Steuerlast, sinkenden Zinsausgaben und einer sinkenden Lohnquote gestiegen.
Da die Kapitaleinkommen viel stärker konzentriert sind als die
Arbeitseinkommen, und weil die Sparquote der Reichen hoch ist, sei nicht
erstaunlich, dass die Nachfrage der Haushalte dadurch eher lahmte.
Bei geringer Nachfrage sind typischerweise auch die
Investitionen gering.
Auch ein illustres Forscherteam, darunter David Autor,
John Van Reenen und Lawrence Katz, hat kräftige Indizien für die These
vorgelegt, dass die zunehmende Marktmacht weniger Superstar-Unternehmen,
vor allem in den USA, zu steigenden monopolistischen Gewinnen führt und
im Gegenzug den Anteil der Arbeitnehmer an der Wertschöpfung drückt.
Im Aufsatz “The Fall of the Labor Share and the Rise of Superstar Firms“,
der im renommierten “Quarterly Journal of Economics” erschienen ist, zeigen
sie, dass wenige große Unternehmen mit hohen Gewinnquoten immer größere
Marktanteile auf sich vereinen.
Sie verdrängen dabei Unternehmen, in denen den
Beschäftigten ein höherer Anteil an der Wertschöpfung zufließt.
Je stärker in einer Branche die Konzentration der
Marktanteile zunimmt, desto stärker geht die Lohnquote zurück,
weisen sie nach.
Traditionell haben Branchen und Unternehmen mit
hohen Gewinnen auch besonders hohe Löhne bezahlt. Das wirkte früher dem
Absinken der Lohnquote in solchen Branchen und Unternehmen entgegen.
Weil die Konzerne aber zunehmend die arbeitsintensiven
Tätigkeiten an Zulieferer im billigen Ausland auslagern, Zeitarbeitsfirmen
nutzen oder Werkverträge mit Selbstständigen abschließen, schaffen sie
es, den früher üblichen Lohnauftrieb auf eine kleine Kernbelegschaft zu
begrenzen.
Für die Besitzer der Unternehmen, die Kapitalisten,
ist nicht entscheidend, wie viel produziert und konsumiert wird, sondern
wie hoch die heutigen und künftigen Erträge sind und wie die Börse diese
Erträge bewertet.
Der erste Teil, wie viel Gewinn man mit einer
gegebenen Ausstattung an Produktionsmitteln erzielen kann, heißt Marktmacht.
Wenn die Unternehmen die Gewinnmargen steigern können,
indem sie – mithilfe der Politik – ihre Preisaufschläge steigern und die
Gehälter und Löhne drücken, dann tut das zwar Produktion und Absatz gar
nicht gut. Denn die Menschen haben dann weniger Geld zur Verfügung. Aber den
Gewinnen tut es gut.
Damit die Politik dabei hilft, wird sie von den immer
reicheren Unternehmen mit finanziellen Zuwendungen, einträglichen
(Neben-)Jobs und einem immer größeren Heer immer besser bezahlter
Lobbyisten umzirzt. Die Hilfe besteht dann darin, die Regeln der
Wettbewerbspolitik zu lockern und weniger strikt durchzusetzen und die
Arbeitnehmerrechte abzubauen.
Die Produktion von Börsenhype
Als ein wichtiger Faktor zur Erklärung der starken
Schwankungen des Unternehmenswerts, relativ zu deren physischem Vermögen, kommt
der Börsenhype hinzu. Dieser Überschwang der Anleger bei der
Bewertung künftiger Erträge wird gezielt erzeugt und immer weiter
verstärkt, weil die daran Beteiligten damit viel Geld verdienen können.
Man erinnere sich nur an den Hype um die
Telekom-Aktie und die am Neuen Markt gelisteten Unternehmen während der Dotcom-Blase
Ende der 1990er Jahre, als die Bewertung von allen Unternehmen, die irgend
etwas mit Telekom oder Digitalem zu tun hatten, in absurde Höhen schossen.
Am bekanntesten ist das Beispiel Telekom, deren völlig
überteuerte Aktien mit großen Werbekampagnen an Mann und Frau gebracht
wurden. Man kaufte, weil die Kurse stark stiegen und man auf weitere
Kurssteigerungen setzte, angetrieben von euphorischen Managern,
Analystenstudien und Medienberichten. Selbst das
Medien-Rechtevermarktungsunternehmen EM.TV, das 1989 seine Aktien zu
umgerechnet 35 Cent an die Börse brachte, wurde im Jahr 2000 zu 120 Euro pro
Aktie bewertet.
Die Produktion von Hype gelingt regelmäßig,
weil alle Beteiligten ein Interesse daran haben, mitzumachen.
Die Medien finden mehr Absatz, wenn sie
mitmachen.
Die Analysten der Banken, die Aktien
vermeintlich objektiv im Dienste der Anleger bewerten, tun das in Wahrheit im
Dienste ihrer Arbeitgeber, die am Börsenhype verdienen.
Und die Manager der Unternehmen werden so mit
Aktien und Aktienoptionen bezahlt, dass ihr Einkommen mit steigendem
Börsenwert stark überproportional nach oben geht, während sie nur sehr begrenzt
Geld verlieren, wenn die Blase platzt.
Der Börsenwert der Unternehmen kann natürlich
nicht unbegrenzt stärker steigen als die Gewinne. Irgendwann, wenn das
Verhältnis zu absurd hoch wird, trocknen die Käufe aus und nehmen die Aktienverkäufe
überhand. Die Kurse sinken und es kommt zur Baisse oder zu Crash.
Das ist den wichtigsten Beteiligten an der
Hype-Produktion klar, aber es tut ihren Anreizen keinen Abbruch.
Die Gehälter der Analysten und der
Unternehmensmanager werden im Crash nicht negativ, sie behalten ihre hohen
Einkommen aus der Hype-Zeit.
Die großen Investmentbanken, die den Hype
produzieren, aber sich von ihm nicht anstecken lassen, sind die ersten, die
die Anzeichen der unausweichlichen Wende erkennen, auch weil sie in den
Orderbüchern sehen, wie sich der Wind dreht, und auf dieser Basis agieren
können. Während sie die Anleger noch zum Kauf animieren, setzen sie selbst
auf fallende Kurse und verdienen daran.
Geht es doch einmal schief, dann steht immer der Staat
bereit zu helfen, weil die Finanzbranche ja systemrelevant ist.
Und in der Zeit des Hypes können die überbewerteten
Unternehmen und ihre Besitzer mit ihrem Scheinvermögen auf Einkaufstour
gehen und Teile der Wirtschaft, die nicht so überbewertet sind, aufkaufen. So
sorgt jeder neue Börsenhype für eine weitere Konzentration der
Wirtschaftsmacht.
Zusammenfassung und Ausblick
Wir haben gesehen, dass Kapital in seinen wichtigsten
Formen, Grundvermögen und staatliche geschützte Monopolrechte,
die Produktion zur Bedürfnisbefriedigung nicht ermöglicht, sondern
verteuert, und dass deshalb auch das Vermögen der Kapitalbesitzer gerade dann
stärker steigt, wenn weniger in Produktionsanlagen investiert wird.
Außerdem haben wir gesehen wie verschiedene Akteure
zusätzlich daran verdienen, börsengehandelte Kapitalwerte durch die
Produktion von Hype nach oben zu treiben.
Finanzsektor (einschließlich Notenbanken) als Hebel
der Kapitalisten sorgt dafür, dass die Kapitalwerte immer weiter steigen,
zulasten der Arbeitenden, der Mieter und der Konsumenten.