Samstag, 3. Oktober 2020

Das wahre Wesen des Kapitalismus

 

21. 09. 2020 

Ist Kapital das, was in Form von Maschinen, Anlagen, Grundstücken und Gebäuden Verwendung in der Produktion findet?

Oder ist es das Geld mit dem Güterproduzenten und die Finanzbranche „arbeiten“? Oder beides?


... Kapital ist kein Produktionsmittel, sondern ein Eigentumsrecht auf die Erträge der Produktion. Kapitalisten ermöglichen nicht Produktion, sondern sie drücken aus Gewinninteresse die Produktion auf ein Niveau weit unterhalb der Menge, die technisch effizient und kostendeckend herstellbar wäre.

 

Das Kapital des Robinson Crusoe

 

Einführungslehrbücher der Ökonomie legen gern die Grundlagen mit Beispielen aus der Einpersonenökonomie des auf einer einsamen Insel gestrandeten Robinson Crusoe. Tun wir das also auch. Crusoe überlebe zunächst, indem er Fische mit seinen Händen fängt. Weil das nicht sehr ergiebig ist, sparte er sich einige Fische vom Mund ab, um an manchen Tagen, statt zu fischen, ein Netz zu flechten. Damit kann er dann seinen Fischbedarf in sehr viel kürzerer Zeit, mit weniger Arbeit decken.

Für Mainstream-Ökonomen ist das Netz ein Produktionsmittel, auch Kapitalgut oder kurz Kapital genannt.

Gegen die Bezeichnung als Produktionsmittel ist nichts einzuwenden. Gegen die Bezeichnung als Kapital schon. Denn Kapital Kapital, so wie der Begriff gemeinhin verwendet wird, hat einen Vergütungsanspruch, der demjenigen zusteht, der das Kapital bereitstellt. Nach der vorherrschenden „neoklassischen“ Kapitaltheorie, die wir gleich noch näher betrachten werden, bemisst sich dieser Vergütungsanspruch nach dem Anteil des Kapitals am Produktionsergebnis, nach seiner „Produktivität“.

 

Was heißt das für Robinson? Sagen wir, er fängt Fische unter Einsatz eigener Arbeit und einem Netz, das er selbst gebaut hat. Was er fängt isst er. Es ist nicht möglich, zu ermitteln, welcher Anteil am Fang auf die (direkte) Arbeit zurückgeht und welcher auf den Einsatz der Fischfanggeräte. Ohne Arbeit ist der Ertrag des Netzes Null, ohne Netz ist der Ertrag des Fischfangs sehr niedrig.

Es ist auch völlig unnötig und uninteressant für Robinson, diese Anteile zu ermitteln. Das wird erst interessant, wenn eine zweite Person ins Spiel kommt, zum Beispiel Freitag, den Robinson im Roman von Daniel Defoe aus der Gewalt von Kannibalen befreit und zu seinem Diener macht. Robinson bringe ihm bei, wie er ein Netz flechten und verwenden kann, um zur Versorgung beider Fische zu fangen.

Von nun an stelle Freitag die Arbeit und Robinson das Knowhow zur Herstellung des Produktionsmittels. Nun kann man von Kapital sprechen. Aber nicht das Netz ist das Kapital, das einen Vergütungsanspruch hat, sondern das ausschließliche (aber handelbare) Recht Robinsons auf die Nutzung des Netzes.

 

Die Machtfrage ist zentral

 

Will man die Produktivität und den Wert des „Kapitals“ von Robinson bewerten, ist die relative Macht des vormaligen Sklavenhändlers Robinson und seines Dieners Freitag von zentraler Bedeutung.

Es ist weiterhin unmöglich, objektiv festzustellen, welcher Anteil des Fischfangs auf die Arbeit von Freitag und welcher auf das mit Robinsons Knowhow gebaute Netz zurückgeht. Man kann damit starten, zu vergleichen, wie viel weniger Fische Freitag ohne Netz an einem Tag fangen würde. Aber ohne jemand, der das Netz auslegt und wieder einholt – etwas, was Robinson entweder nicht tun kann oder nicht tun will – ist der Ertrag des Netzes Null.

Wer wie viel vom Fang bekommt ist also Verhandlungssache. Im Buch von Defoe steht Freitag in einem sklavenartigen Verhältnis zu Robinson. Robinson kann also einfach Freitag so viele Fische zuteilen, wie er für angemessen hält.

Es könnte auch anders herum sein. Wäre Robinson am Verhungern, weil er selber keine Fische fangen kann, und müsste einem selbstbewussten Eingeborenen anbieten, diesem gegen einen Anteil am Fischfang beizubringen, wie man ein Netz baut, müsste sich Robinson vielleicht mit einem Anteil zufrieden geben, der ihn gerade so am Leben erhält.

 

Von zentraler Bedeutung für die Verhandlungsposition ist das Recht am geistigen Eigentum und am Eigentum generell und die Macht, dieses durchzusetzen.

Ohne dieses Recht kein Kapital. Wenn Freitag das Netz einfach nachbauen kann, sieht es schlecht aus für Robinsons Kapitalistenanspruch. Wenn er nicht durch geistige oder körperliche Überlegenheit (Macht) ein Recht an geistigem Eigentum etablieren und durchsetzen kann, ist sein Kapital wertlos, auch wenn das Netz unverändert produktiv ist oder sein könnte.

Robinson braucht also die Macht, Freitag zu hindern, das, was er von ihm gelernt hat, selbst anzuwenden.

 

Diese zentralen Machtfragen werden in der Lehrbuchökonomie nie angesprochen. Dabei werden sie nicht minder wichtig, wenn wir zu einer komplexeren Wirtschaftsordnung mit vielen Menschen kommen – wie dem Kapitalismus.

Diese Machtfragen verschwinden lediglich hinter einem Schleier von als selbstverständlich hingenommenen institutionellen Regeln. Diese sind aber nichts weiter als die in Institutionen geronnene Macht des Robinson, seine Kapitalisteninteressen gegen die Arbeitnehmerinteressen des Freitag durchzusetzen.

Durch den Schleier für selbstverständlich erklärter Institutionen lässt die Ökonomik die Macht des Kapitals verschwinden und stellt das Verteilungsergebnis als etwas dar, das sich in einem fairen und objektiven Prozess herausbildet, bei dem alle die gleichen Chancen auf Wohlstand haben.

 

Das Kapital im Lehrbuch

 

Die Ökonomie-Lehrbücher nehmen einfach an, es gäbe eine „Produktionsfunktion“, die bestimmt, wie groß das Produktionsergebnis bei verschiedenen Einsatzmengen Arbeit und Kapital ist. Dieser Funktion geben sie eine Form, mit der sich gut rechnen lässt. Was Kapital ist, bleibt dabei der Fantasie des Betrachters überlassen. Die meisten werden an Maschinen denken, andere an Geld.

Dank der angenommenen Formel lässt sich berechnen, wie viel mehr Produkteinheiten (Fische) herauskommen, wenn man entweder den Arbeitseinsatz um eine Einheit erhöht oder den Kapitaleinsatz.

Das Ergebnis wird Grenzproduktivität der Arbeit beziehungsweise des Kapitals genannt.

Nach der neoklassichen Theorie sorgt der Markt dafür, dass diese Grenzproduktivität, den Lohn der Arbeit und die Vergütung des Kapitals bestimmt. Jeder bekommt, was er verdient.

So hat John Bates Clark das ausgedrückt, als er diese Theorie um die Wende zum 20. Jahrhundert entwickelte. Er tat das ausdrücklich mit dem Ziel, der Ausbeutungsthese der Marxisten etwas entgegenzusetzen. Dass seine Theorie dafür so geeignet ist, erklärt ihre andauernde Popularität, obwohl sie voller Widersprüche und Lücken steckt.

Die wichtigste und größte Lücke: Was eine Einheit Kapital ist, bleibt aus gutem Grund offen. Ist es ein zweites Netz für Robinson? Oder ein etwas größeres Netz? Diese Frage hat bis heute niemand beantworten können. Ein Weinfass und ein Kran lassen sich einfach nicht zusammenzählen. Man kann zwar den Marktwert der Kapitalgüter zusammenzählen, aber das ist ein Trick, bei dem man das, was zu erklären ist – den Wert – benutzt, um sich selber zu erklären.

In der sogenannten Cambridge-Capital-Kontroverse zwischen den Neoklassikern von Cambridge, USA, und ihren Kritikern in Cambridge, England, bei der es darum ging, zogen erstere anerkannter Maßen den Kürzeren und mussten zugeben, dass ihre Kapitaltheorie nicht funktioniert und sie keine Einheit für Kapital haben. Bis heute wird so getan, als hätte es diese Niederlage und diese Einräumung nicht gegeben.

Ein weiteres Problem der Theorie: Das Einsatzverhältniss von Arbeit und Kapital zu variieren ist nur in engen Grenzen sinnvoll. Freitag kann nur ein Netz und nur eines bis zu einer bestimmten Größe bedienen. Ihm ein zweites oder ein sehr großes Netz zu geben, bringt nichts. Oder nehmen wir das Beispiel von Busfahrern (Arbeit) und Bussen (Kapital). Es gibt ein vernünftiges Verhältnis von sagen wir zwei Busfahrern pro Bus, mit dem sich alle Schichten abdecken lassen und die Beförderungsleistung effizient produziert wird. Erhöht man das Verhältnis auf zwei Busse für zwei Busfahrer, so bringt das eine Reserve für technische Probleme, sonst aber nicht viel. Erhöhe ich die Anzahl der Busfahrer auf drei pro Bus, gilt das Gleiche. Es leuchtet nicht ein, warum unter solchen Bedingungen die Grenzproduktivität von Arbeit und Kapital die Höhe der Löhne und Rendite bestimmen sollte, selbst wenn diese Grenzproduktivität bestimmbar wäre.

Ein Ökonom, der eine Produktionsfunktion mit Arbeit und “Kapital” als Produktionsfaktoren einfach annimmt, und daraus seine Schlussfolgerungen zieht, ignoriert solche elementaren Probleme. Die Formel funktioniert ja auch hervorragend, selbst wenn sie keine Entsprechung in der realen Welt hat. Und das Ergebnis ist politisch opportun für die Mächtigen.

 

Geld arbeitet nicht und produziert nichts

 

Diejenigen, die in der realen Geschäftswelt mit dem Kapitalbegriff hantieren, verstehen darunter einfach, was man in der Bilanz als Eigenkapital und Fremdkapital (Schulden) auf der rechten Seite stehen hat: das Geld, das der Kapitalist zur Verfügung hat. Typischerweise hat das sehr wenig mit Maschinen und Anlagen zu tun. Der Wert der Produktionsmittel ist oft im Verhältnis zum Gesamtkapital in diesem Sinne sehr gering.

Bichler und Nitzan veranschaulichen das in “Capital as Power” mit der Bilanz und dem Börsenwert von Microsoft. Dort standen 2005 Gebäude und Anlagen im Wert von 2,3 Mrd. Dollar in der Bilanz, bei einem Börsenwert von 283 Milliarden Dollar. Nimmt man die Schulden (Fremdkapital) hinzu, die im Börsenwert ja nicht enthalten sind, kommt ein Gesamtkapitalwert von 306 Mrd. Dollar zusammen.

Wenig mehr als ein halbes Prozent geht auf den Wert der Produktionsmittel zurück.

Der Rest sind immaterielle Produktionsgüter, was man im großen und ganzen mit Rechten übersetzen kann. Niemand hat das Recht, die Software von Microsoft zu kopieren und anzuwenden, ohne dafür hohe Lizenzgebühren an  Microsoft zu bezahlen.

 

Daran sieht man auch sehr schön, dass Kapital nicht produktiv ist, sondern Produktion verhindert und begrenzt. Software lässt sich praktisch kostenlos kopieren. Ohne das Kapital von Microsoft bzw. seiner Besitzer würde sehr viel mehr Software produziert und angewendet.

Durch Produktionsbegrenzung schaffen es die Besitzer von Microsoft, dass ihr Unternehmen zu dem gewinnträchtigsten und wertvollsten der Welt gehört.

Das gilt nicht nur für Software. Auch die Manager von Automobilunternehmen haben als Agenten der Kapitaleigner den Auftrag, die Produktion unter die technisch kosteneffiziente Menge zu begrenzen, damit die Autos zu gewinnmaximierenden Preisen verkauft werden können.

In diesem Sinne hat auch der berühmte Ökonom und Soziologe Thorstein Veblen postuliert, dass das moderne Unternehmen nicht entstanden ist, um die Produktivität – im Sinne einer möglichst großen Bedürfnisbefriedigung mit vorhandenen Produktionsmitteln – zu erhöhen, sondern um sie zu begrenzen.

 

Heute gilt dieses System weithin als so selbstverständlich und alternativlos, dass es gar nicht mehr hinterfragt wird. Als die Ökonomen noch genötigt waren, es zu verteidigen und zu rechtfertigen, taten sie das mit dem Argument, dass es besser funktioniere als alternative Systeme.

Zwar begrenze Microsoft aus Gewinnabsicht die Produktion von kostenlos herstellbarer Software. Aber nur weil das möglich sei, sei die Software so gut geworden, wie sie heute ist.

 

Ob das stimmt, ist eine Frage, die man nicht allgemeingültig beantworten kann. Kapitalismus ist in gewissem Sinne etwas graduelles. Im Spätkapitalismus, wenn die Kapitalisten lange Zeit hatten, ihre zunehmende Macht einzusetzen, um sich immer mehr Rechte zu sichern, sind die kapitalisierbaren Rechte so ausgeprägt, dass die Produktion und Produktivität ernsthaft leidet.

Unternehmenswerte werden vor allem noch durch Umverteilung geschaffen, indem der Anteil der Arbeitnehmer am Produktionsergebnis gedrückt wird und die Gewinnmarge, die auf die Produktpreise aufgeschlagen wird, zulasten der Konsument immer größer wird.

Wenn Urheberrechte sich bis 70 Jahre nach dem Tod eines Autors erstrecken und noch dazu rückwirkend immer wieder verlängert wurden, dann lässt sich dafür keine Begründung mit notwendigen Anreizen mehr finden. Es ist klar, dass es hier nur um Umverteilung zugunsten der Rechteinhaber geht.

 

Auf vielerlei Weisen wurden Rechte an geistigem Eigentum in den letzten Jahrzehnten sowohl ausgedehnt als auch verstärkt durchgesetzt.

Bei Patenten gibt es Patentdickichte aus strategischen Patenten, die nur angemeldet werden, damit ein Unternehmen in Verhandlungen mit einem anderen Unternehmen etwas hat, was das andere Unternehmen an der Produktion hindern kann, sodass dieses andere Unternehmen einwilligen muss, seinerseits die Nutzung eines Patents zu erlauben.

Branchen mit solchen Patentdickichten gleichen Minenfeldern für kleinere und mittlere Unternehmen. Nur noch die größten Unternehmen können es sich leisten, in diesen Branchen tätig zu sein. Die Gewinnmargen sind dann entsprechend hoch. Mobiltelefonie ist ein Beispiel. Der Börsenwert von Apple ist im Jahr 2020 binnen Monaten von einer auf zwei Billionen Euro gestiegen.

 

These, dass Kapital kein Produktionsfaktor ist, der hilft, Bedürfnisse der Bevölkerung zu befriedigen, sondern das Recht, einen Teil der Produktion für sich zu reklamieren. Diese These wollen wir nun mit Daten unterfüttern.

Am deutlichsten ist das bei Grund und Boden, ohne den kein Wohnen und keine Produktion möglich ist. Das ist kein Nebenaspekt.

Der Kapitalstock der deutschen Volkswirtschaft, von 20 Billionen Euro, wie er vom Statistischen Bundesamt ausgewiesen wird, besteht nur zu 2 Billionen Euro, also einem Zehntel, aus “Fahrzeugen, Maschinen und sonstigen Ausrüstungen”. 9,3 Billionen Euro entfallen auf Wohn- und Gewerbeimmobilien, überwiegend Wohnimmobilien (Inlandsproduktberechnung S.60). Der große Rest besteht im Wesentlichen aus geistigem Eigentum und militärischen Waffensystemen.

Das bestätigt noch einmal, was wir in Teil 1 gesehen hatten, dass die Produktionsmittel, an die wir denken sollen, wenn von Kapital die Rede ist, einen ganz geringen Anteil an dem ausmachen, was den Reichtum und die Macht der (großen) Kapitalbesitzer ausmacht.

 

Pacht als Monopolpreis

 

Boden als eine Fläche mit einer bestimmten Lage wird nicht produziert, sondern ist einfach da. Er nutzt sich nicht ab und wird nicht abgeschrieben wie Maschinen und Anlagen.

Boden wird vielmehr immer teurer, weil er im Zuge des Bevölkerungs- und Wirtschaftswachstums immer knapper und wertvoller wird.

”Ein besseres Verständnis der Besonderheiten von Boden kann uns helfen, drängendste gesellschaftliche Probleme anzugehen, wie überhöhte Immobilienpreise, Ungleichheit und stagnierende Produktivität”, verspricht Ryan-Collins und hat dafür mit Toby Lloyd und Laurie Macfarlane das Buch “Rethinking the Economics of Land and Housing” geschrieben.

Der klassische Ökonom Adam Smith kommt in dem Buch mit der Erläuterung zu Wort:

Die Grundrente ist natürlicherweise ein Monopolpreis. Sie richtet sich nicht danach, was der Besitzer dafür ausgegeben hat oder was er mindestens an Einnahmen braucht, sondern danach, was der Farmer sich leisten kann zu zahlen.

Rente bedeutet im Ökonomenjargon “leistungsloses Einkommen”, etwa im Wort „Monopolrente“. Der Grundstücksbesitzer vergibt sein Grundstück an den, der bereit ist, den größten Teil des Gewinns abzuführen, den man durch die Bewirtschaftung dieses Grundstücks machen kann.

Preis oder Pacht richten sich heutzutage vor allem nach der Lage und danach, welche Nutzungen erlaubt sind. Mit Investitionen der Grundbesitzer haben sie meist sehr wenig zu tun.

Wenn eine neue Straße oder S-Bahn gebaut wird, können die Besitzer der erschlossenen Grundstücke den größten Teil des Vorteils in Form höherer Grundstückspreise auf sich ziehen. Wenn die Wirtschaftskraft und die Einkommen in einer Region steigen, profitieren ebenfalls in starkem Umfang die Grundbesitzer. An den Kosten beteiligen müssen sie sich meist nicht nennenswert.

Bevor jetzt die Hausbesitzer aufschreien, die ihr Heim teuer und mit einer hohen Hypothek gekauft haben, sei betont: ja, es stimmt. Die Banken und die Mechanismen des Kapitalismus sorgen dafür, dass diejenigen, die nicht schon reich sind, sondern den Finanzsektor brauchen, um Hausbesitzer zu werden, nur mit Glück und in begrenztem Umfang zu den Profiteuren des Systems zählen. Sie müssen in Form hoher Kaufpreise, Zinsen und Zinseszinsen so viel an die Vorbesitzer und die Banken bezahlen, dass sie zumindest lange Zeit vom Lebensstandard her eher zu den Armen gehören als zu den Reichen. Aber diese Gruppe macht nicht das Gros des Grundbesitzes aus. Sie ist eher der politische Schutzwall vor den großen Vermögen, der dazu dient, Steuern auf Grundbesitz und Vermögen abzuwehren.

Schon die klassischen Ökonomen wie Adam Smith erwarteten und fürchteten, dass ein immer größerer Anteil der Wachstumsdividende an die Grundbesitzer gehen würde. Steigende Mieten und Pachten würden die Löhne und Produktionskosten nach oben treiben und die wirtschaftliche Entwicklung bremsen. Für Marx war die Lösung klar: Verstaatlichung.

Smith plädierte, deutlich moderater, für Besteuerung von Bodenwertsteigerungen. Die staatliche Steuerlast sollte so weit wie möglich auf die Bezieher von Grundrenten fallen – statt auf Arbeitseinkommen oder Einkommen aus Unternehmertätigkeit. Denn Monopolrenten zu besteuern beschädigt Leistungsanreize nicht. Es drückt lediglich die Netto-Bodenpreise im Umfang der Steuer.

In dem Aufsatz “The measurement of wealth” hat der frühere Chefvolkswirt der Weltbank, Joseph Stiglitz, darauf hingewiesen, dass eine Zunahme des Volksvermögens, die auf höhere Grundstückswerte zurückgeht, in keiner Weise eine zusätzliche produktive Kapazität der Volkswirtschaft mit sich bringt.

Es ist ein Scheinreichtum. Grundstücke hätten im Kapitalstock nichts verloren.Jedenfalls im Kapitalstock des neoklassischen Märchens, der einen wichtigen Beitrag zur Produktion leistet.

Ganz im Gegenteil dazu sind höhere Grundrenten und damit höhere Grundstückspreise, wie schon Adam Smith wusste,  ein Hemmnis für die Produktion, weil sie diese unnötig teurer machen. Direkt sichtbar ist das bei betriebsnotwendigen Grundstücken.

Aber auch wenn die Wohnkosten steigen wird die Produktion teurer. Wer in einer Stadt produzieren will, in der das Wohnen teuer ist, muss hohe Löhne und Gehälter zahlen,sonst können oder wollen es sich seine Arbeiter und Angestellten nicht leisten, dort zu leben.

Was in der Statistik aufgrund einseitiger Erfassung als Wohlstandsgewinn für die Nation, als Kapitalstock daherkommt, ist in Wahrheit nur Umverteilung – oder, mit anderen Worten, ein Maß für die Macht der Kapitalisten, sich Werte von anderen anzueignen..

Die höheren Grundstückwerte werden registriert. Die höheren Kosten für die Mieter und Pächter jedoch nicht. So wird die Illusion genährt, die Gesellschaft sei reicher geworden, wenn ein Teil von ihr von einem anderen Teil mehr für die Nutzung der vorhandenen Grundstücke bekommt.

Weniger deutlich sichtbar gibt es ganz ähnliche Zusammenhänge im Verhältnis von Unternehmen, Arbeitnehmern und Konsumenten.

Auch wenn Microsoft ein riesiges Vermögen in Form von “Rechten an geistigem Eigentum” in die Kapitalstockrechnung einbringt, so ist das nichts anderes als eine Zahlungsverpflichtung aller Nutzer von Software, die die Produktion verteuert und die Konsumenten schröpfen hilft.

 

Monopolgewinne bestimmen den Unternehmenswert

Die Betriebswirtschaftslehre nennt den Teil des Unternehmenswertes, der vor allem auf exklusiven, staatliche geschützten Rechten beruht, auf Englisch „Intangibles“, auf Deutsch „Immaterielle Vermögenswerte“.

Die Volkswirtschaftslehre hat auch einen Namen für den Anteil, den Marktmacht am Kapitalwert eines Unternehmens ausmacht:

Tobins Q: Es misst, um wieviel der gesamte Kapitalwert eines Unternehmens größer ist als der Wiederbeschaffungswert seiner physischen Anlagen.

Der gesamte Kapitalwert ist dabei der Marktwert eines Unternehmens, zum Beispiel an der Börse, plus seine Schulden (das Fremdkapital).

Bichler und Nitzan zeigen in ihrem Buch “Capital as Power”, dass es bei Tobins Q auf gesamtwirtschaftlicher Ebene im letzten Jahrhundert lange und starke Wellenbewegungen gab, bei denen der Wert von Q  in den USA von 0,7 bis 2,8 schwankte. Die Bewertung des Kapitals aller Unternehmen variierte also zwischen nur drei Vierteln des Wertes seiner physischen Anlagen und fast dem Dreifachen dieses Wertes.

Bei den größten Unternehmen ist Tobins Q höher, denn sie haben deutlich mehr Monopolrechte als die kleineren. Laut der Studie „The Power of Intangible Assets. An Analysis of the S&P 500“ aus dem Jahr 2006 ist das Verhältnis von Marktwert zum Wert der Anlagegüter bei den 500 größten, im Aktienindex S&P 500 gelisteten US-Aktiengesellschaften sogar vom 1,2-fachen im Jahr 1975 bis 2005 auf den Faktor 5 gestiegen.

Das heißt, der Anteil der nicht physisch unterlegten, „intangiblen“ Werte am Marktwert ist bei den größten Unternehmen auf 80 Prozent gestiegen.

Der von den Ökonomen nicht weiter erklärte immaterielle „Rest“ macht den Großteil des Unternehmenswertes aus, die materielle Basis erklärt ihn nur zu 20 Prozent.

„Intellektuelles Kapital ist zur wichtigsten Klasse von Vermögenswerten in allen Industrieländern geworden“, resümieren die Autoren.

Etwas aktueller kommen auch Gary Cokins und Nick Shepard 2017 in „The Power of Intangibles“ zu dem Ergebnis, dass sich im S&P 500 das Verhältnis von greifbaren zu immateriellen Vermögenswerten von 1975 bis 2015 von vier zu eins auf eins zu vier umgekehrt hat, dass 2015 also 80 Prozent des Kapitalwerts der größten US-Unternehmen aus „intellektuellem Kapital, Arbeitskräften, Lieferketten und anderen Schlüsselbeziehungen“ bestand.

Mit Lieferketten und Arbeitskräften ist gemeint, dass ein Unternehmen die Produktion auf eine Weise organisiert hat, die andere nicht ohne weiteres imitieren können, weil sie nicht die gleichen eingespielten Beziehungen zu Lieferanten und das gleiche eingespielte Team von Arbeitskräften haben. Das sind Quellen von Übergewinnen, die nicht auf staatliche Privilegierung zurückgehen. Sie dürfen jedoch keine allzu große Rolle spielen. Denn im Gegensatz zu rechtlichen Verboten der Nachahmung sind sie von Konkurrenten überwindbar, wenn ein Ertrag winkt, der groß genug ist.

 

Investieren schadet dem Kapitalwert

Auf der Suche nach den Ursachen für die starken Schwankungen des Anteils der immateriellen Werte am Unternehmenswert, stellen Bichler und Nitzan fest, dass die Unternehmenswerte und der Wert der physischen Anlagegüter tendenziell in gegenläufige Richtung bewegen.

Wenn viel investiert wird und der Anlagenwert entsprechend hochgeht, sinkt tendenziell die Bewertung der Unternehmen am Kapitalmarkt.

 

Wenn dagegen wenig investiert wird, steigt der Unternehmenswert.

Zum gleichen überraschenden Ergebnis kamen auch drei US-Ökonomen, die  im Fachaufsatz „How the Wealth Was Won“ untersuchten, welche Faktoren in den beiden Perioden 1952 bis 1988 und 1989 bis 2017 den Börsenwert amerikanischer Aktiengesellschaften nach oben getrieben haben.

In der früheren Periode waren die Produktionssteigerungen hoch und der Anstieg der Aktienwerte gering. In der zweiten Periode wurde die Produktion viel weniger ausgeweitet, aber die Börsenwerte der Unternehmen schossen nach oben.

In Zahlen ausgedrückt: In den 29 Jahren von 1959 bis Ende 1988 stieg die Wertschöpfung aller US-Unternehmen außerhalb des Finanzgewerbes inflationsbereinigt um 4,5 Prozent pro Jahr, in den folgenden 29 Jahren nur noch etwas mehr als halb so stark um 2,5 Prozent. Der Börsenwert all dieser Unternehmen stieg dennoch – oder gerade deswegen? –  in der aktuelleren Periode mit 8,4 Prozent pro Jahr fast doppelt so stark wie in der früheren mit 4,5 Prozent.

Die drei Ökonomen stellen fest, dass sich die Wertsteigerungen der Unternehmen bis 1988 statistisch zu 92 Prozent mit einer steigenden Wertschöpfung erklären ließen. In den letzten knapp drei Jahrzehnten nur noch zu einem Viertel.

Mehr als die Hälfte des Wertzuwachses sei dagegen durch Umverteilung ökonomischer Renten “geschaffen” worden. Zu Deutsch: Die Konsumenten müssen höhere Margen der Unternehmen finanzieren, die Arbeitnehmer bekommen einen geringeren Anteil an der Wertschöpfung ihrer Unternehmen.

Jeweils elf Prozent der Wertsteigerung gingen auf zwei weitere Faktoren zurück.

Gewinnmargen werden immer größer

Diese Ergebnisse passen zu einer jüngeren wissenschaftlichen Literatur, die einen starken Anstieg der Gewinnmargen großer Kapitalgesellschaften vor allem in den USA, aber auch in Europa, dokumentiert.

Der Kontrast von kräftigem Gewinnanstieg und schwacher Wirtschaftsentwicklung kann erklären helfen, warum die Unternehmen trotz der hohen Gewinne und niedrigen Zinsen wenig investieren.

Zwei Weltbank Ökonominnen haben mit dem Aufsatz “The Rise in Corporate Saving and Cash Holding in Advanced Economies” gezeigt, dass Treiber dieser für die Lehrbuchökonomie rätselhaften Entwicklung vor allem die größten Konzerne sind.

Deren Gewinne seien unter anderem wegen sinkender Steuerlast, sinkenden Zinsausgaben und einer sinkenden Lohnquote gestiegen. Da die Kapitaleinkommen viel stärker konzentriert sind als die Arbeitseinkommen, und weil die Sparquote der Reichen hoch ist, sei nicht erstaunlich, dass die Nachfrage der Haushalte dadurch eher lahmte.

Bei geringer Nachfrage sind typischerweise auch die Investitionen gering.

Auch ein illustres Forscherteam, darunter David Autor, John Van Reenen und Lawrence Katz, hat kräftige Indizien für die These vorgelegt, dass die zunehmende Marktmacht weniger Superstar-Unternehmen, vor allem in den USA, zu steigenden monopolistischen Gewinnen führt und im Gegenzug den Anteil der Arbeitnehmer an der Wertschöpfung drückt.

Im Aufsatz “The Fall of the Labor Share and the Rise of Superstar Firms“, der im renommierten “Quarterly Journal of Economics” erschienen ist, zeigen sie, dass wenige große Unternehmen mit hohen Gewinnquoten immer größere Marktanteile auf sich vereinen.

Sie verdrängen dabei Unternehmen, in denen den Beschäftigten ein höherer Anteil an der Wertschöpfung zufließt.

Je stärker in einer Branche die Konzentration der Marktanteile zunimmt, desto stärker geht die Lohnquote zurück, weisen sie nach.

Traditionell haben Branchen und Unternehmen mit hohen Gewinnen auch besonders hohe Löhne bezahlt. Das wirkte früher dem Absinken der Lohnquote in solchen Branchen und Unternehmen entgegen.

Weil die  Konzerne aber zunehmend die arbeitsintensiven Tätigkeiten an Zulieferer im billigen Ausland auslagern, Zeitarbeitsfirmen nutzen oder Werkverträge mit Selbstständigen abschließen, schaffen sie es, den früher üblichen Lohnauftrieb auf eine kleine Kernbelegschaft zu begrenzen.

Für die Besitzer der Unternehmen, die Kapitalisten, ist nicht entscheidend, wie viel produziert und konsumiert wird, sondern wie hoch die heutigen und künftigen Erträge sind und wie die Börse diese Erträge bewertet.

Der erste Teil, wie viel Gewinn man mit einer gegebenen Ausstattung an Produktionsmitteln erzielen kann, heißt Marktmacht.

Wenn die Unternehmen die Gewinnmargen steigern können, indem sie – mithilfe der Politik – ihre Preisaufschläge steigern und die Gehälter und Löhne drücken, dann tut das zwar Produktion und Absatz gar nicht gut. Denn die Menschen haben dann weniger Geld zur Verfügung. Aber den Gewinnen tut es gut.

Damit die Politik dabei hilft, wird sie von den immer reicheren Unternehmen mit finanziellen Zuwendungen, einträglichen (Neben-)Jobs und einem immer größeren Heer immer besser bezahlter Lobbyisten umzirzt. Die Hilfe besteht dann darin, die Regeln der Wettbewerbspolitik zu lockern und weniger strikt durchzusetzen und die Arbeitnehmerrechte abzubauen.

 

Die Produktion von Börsenhype

Als ein wichtiger Faktor zur Erklärung der starken Schwankungen des Unternehmenswerts, relativ zu deren physischem Vermögen, kommt der Börsenhype hinzu. Dieser Überschwang der Anleger bei der Bewertung künftiger Erträge wird gezielt erzeugt und immer weiter verstärkt, weil die daran Beteiligten damit viel Geld verdienen können.

Man erinnere sich nur an den Hype um die Telekom-Aktie und die am Neuen Markt gelisteten Unternehmen während der Dotcom-Blase Ende der 1990er Jahre, als die Bewertung von allen Unternehmen, die irgend etwas mit Telekom oder Digitalem zu tun hatten, in absurde Höhen schossen.

Am bekanntesten ist das Beispiel Telekom, deren völlig überteuerte Aktien mit großen Werbekampagnen an Mann und Frau gebracht wurden. Man kaufte, weil die Kurse stark stiegen und man auf weitere Kurssteigerungen setzte, angetrieben von euphorischen Managern, Analystenstudien und Medienberichten. Selbst das Medien-Rechtevermarktungsunternehmen EM.TV, das 1989 seine Aktien zu umgerechnet 35 Cent an die Börse brachte, wurde im Jahr 2000 zu 120 Euro pro Aktie bewertet.

Die Produktion von Hype gelingt regelmäßig, weil alle Beteiligten ein Interesse daran haben, mitzumachen.

Die Medien finden mehr Absatz, wenn sie mitmachen.

Die Analysten der Banken, die Aktien vermeintlich objektiv im Dienste der Anleger bewerten, tun das in Wahrheit im Dienste ihrer Arbeitgeber, die am Börsenhype verdienen.

Und die Manager der Unternehmen werden so mit Aktien und Aktienoptionen bezahlt, dass ihr Einkommen mit steigendem Börsenwert stark überproportional nach oben geht, während sie nur sehr begrenzt Geld verlieren, wenn die Blase platzt.

Der Börsenwert der Unternehmen kann natürlich nicht unbegrenzt stärker steigen als die Gewinne. Irgendwann, wenn das Verhältnis zu absurd hoch wird, trocknen die Käufe aus und nehmen die Aktienverkäufe überhand. Die Kurse sinken und es kommt zur Baisse oder zu Crash.

Das ist den wichtigsten Beteiligten an der Hype-Produktion klar, aber es tut ihren Anreizen keinen Abbruch.

Die Gehälter der Analysten und der Unternehmensmanager werden im Crash nicht negativ, sie behalten ihre hohen Einkommen aus der Hype-Zeit.

Die großen Investmentbanken, die den Hype produzieren, aber sich von ihm nicht anstecken lassen, sind die ersten, die die Anzeichen der unausweichlichen Wende erkennen, auch weil sie in den Orderbüchern sehen, wie sich der Wind dreht, und auf dieser Basis agieren können. Während sie die Anleger noch zum Kauf animieren, setzen sie selbst auf fallende Kurse und verdienen daran.

Geht es doch einmal schief, dann steht immer der Staat bereit zu helfen, weil die Finanzbranche ja systemrelevant ist.

Und in der Zeit des Hypes können die überbewerteten Unternehmen und ihre Besitzer mit ihrem Scheinvermögen auf Einkaufstour gehen und Teile der Wirtschaft, die nicht so überbewertet sind, aufkaufen. So sorgt jeder neue Börsenhype für eine weitere Konzentration der Wirtschaftsmacht.

 

Zusammenfassung und Ausblick

Wir haben gesehen, dass Kapital in seinen wichtigsten Formen, Grundvermögen und staatliche geschützte Monopolrechte, die Produktion zur Bedürfnisbefriedigung nicht ermöglicht, sondern verteuert, und dass deshalb auch das Vermögen der Kapitalbesitzer gerade dann stärker steigt, wenn weniger in Produktionsanlagen investiert wird.

Außerdem haben wir gesehen wie verschiedene Akteure zusätzlich daran verdienen, börsengehandelte Kapitalwerte durch die Produktion von Hype nach oben zu treiben.

Finanzsektor (einschließlich Notenbanken) als Hebel der Kapitalisten sorgt dafür, dass die Kapitalwerte immer weiter steigen, zulasten der Arbeitenden, der Mieter und der Konsumenten.

https://norberthaering.de/die-regenten-der-welt/kapitalismus-1-macht/