Hongkong und Minneapolis - Vom
gesellschaftlichen Verfall des Westens und seiner Angst davor
08.06.2020
Von Rüdiger Rauls
Zwei Städte sind im Fokus der weltweiten
Aufmerksamkeit. Sie stehen nicht nur für sich alleine, sondern für
Grundsätzliches. In Minneapolis offenbart sich der gesellschaftliche Verfall
des Westens, besonders seiner Führungsmacht USA. An Hongkong offenbart sich
seine Angst vor diesem Verfall. Hongkong belegt die Ohnmacht des Westens
gegenüber China.
Über 100.000 Corona-Tote, etwa 40 Millionen Arbeitslose, Reiche, die immer reicher werden,
und Arme, die immer mehr werden. Das ist die Lage im Land der unbegrenzten
Möglichkeiten. Unbegrenzt sind die Möglichkeiten aber nur für Investoren und
Kapitalbesitzer. Alle anderen stoßen sehr schnell an die Grenzen des american
way of life. Besonders die schwarzen Bürger versinken immer mehr im Elend. Ihre
Zahl an den Arbeitslosen ist mehr als doppelt so hoch wie ihr Anteil an der
amerikanischen Bevölkerung. Dasselbe Verhältnis gilt auch für ihre Toten durch
die Corona-Epidemie und durch Polizeigewalt.
Amerikanische Zustände
Im Mutterland der westlichen Werte scheinen diese für
einen Großteil der eigenen Bevölkerung nicht zu gelten. Die Menschenrechte,
denen die USA nicht nur unter Trump immer wieder gegenüber Russland und China
Geltung verschaffen wollen, wären für die Wortführer im Weißen Haus am
leichtesten im eigenen Land umzusetzen. Von Guantanamo ganz zu schweigen, das
mittlerweile aus der westlichen Menschenrechtsheuchelei ganz verschwunden ist.
Nicht dass dieses Problem gelöst wäre. Es interessiert die Wortführer nicht
mehr, auch nicht die alternativen.
In Minneapolis entladen sich Wut und Verzweiflung
über die gesellschaftlichen Verhältnisse, aber nicht nur dort. Dass der
wiederholte Tod eines schwarzen US-Bürgers durch Polizeigewalt eine solche
Welle der Empörung auslöste, macht deutlich, dass es sich um ein landesweites
Problem handelt.
Die amerikanische Gesellschaft zerfällt unter dem
Druck der Arbeitslosigkeit, der miserablen Gesundheitslage, dem
zehntausendfachen Sterben infolge von Corona, dem Verfall der Städte und
Infrastruktur, der Kriminalität, dem Niedergang der Industrie und zunehmend
auch der Landwirtschaft. Die USA erscheinen immer deutlicher als ein
aufgeblasener Heißluftballon, aus dem die Luft entweicht.
Unangemessen
Vermutlich werden die Proteste bald wieder abklingen,
wie sie immer abgeklungen sind, nachdem die Wut erschöpft war. Sie laufen sich
tot, weil es kein klares Ziel gibt. Und vor allem: Es gibt keine Organisation,
die wie zu Zeiten von Martin Luther King und der Bürgerrechtsbewegung den
Protest bündeln und ihm eine Stoßrichtung geben konnte. Die Gruppen in den
einzelnen Städten scheinen im Moment noch weitgehend für sich zu agieren.
Es ist ein spontaner Protest, hervorgerufen durch ein
aktuelles Ereignis. Eine landesweite Vereinheitlichung von Forderung und
Handeln ist nicht zu erkennen. Es fehlt die politische Organisierung und die
übergeordnete Organisation, der sich die Vielen freiwillig unterordnen im
Bewusstsein, dass sie mit einem untereinander abgestimmten Verhalten und
Vorgehen ihre Schlagkraft und Erfolgsaussichten erhöhen. Empörung ist kein
Ziel.
Das wird es der Regierung und ihren paramilitärischen
Kräften leicht machen, die Kontrolle zu behalten und die Oberhand zu gewinnen.
Wenn auch bürgerkriegsähnliche Zustände herrschen, so kommt die US-Regierung
bisher nicht in Bedrängnis. Sie setzt die Nationalgarde ein, droht mit
militärischer Gewalt und zieht über tausend reguläre Soldaten der Armee
zusammen. Das ist mehr als bei manchen Auslandseinsätzen.
Uneins
Nun ist die Lage sicherlich nicht so ernst, wie Trump
sie zu sehen scheint, weshalb auch gerade altgediente Generäle sich heftig
gegen den Einsatz regulärer Truppen gegen das eigene Volk stellen. Sie tun das
aber nicht aus grundsätzlichen Erwägungen, nicht weil es der westlichen
Menschenrechts-Beschallung widersprechen würde, die seit Jahren aus den
Hauptstädten des Wertewestens die Hirne der Menschen verwirrt.
Sie stellen sich gegen den Einsatz von Militär, weil
es unter den gegebenen Umständen nicht angemessen wäre, denn, so General Martin
Dempsey, „Amerika sei kein Schlachtfeld“. Auch Verteidigungsminister
Esper bestätigte: „Der Einsatz von aktiven Soldaten im Inland sollte nur das
letzte Mittel in den dringlichsten und äußersten Situationen sein... Wir
befinden uns derzeit nicht in einer solchen Situation“. Tags zuvor jedoch hatte
sich Esper vollkommen anders geäußert. Da war er mit seinem Oberbefehlshaber
Trump noch einer Meinung, dass es nötig sei, „das Schlachtfeld zu dominieren“.
Der Einsatz militärischer Gewalt gegen die eigene
Bevölkerung ist also nicht grundsätzlich tabu, sondern nur abhängig von der
Situation. In diesem Grundsatz stimmen die Meinungen des amtierenden
Verteidigungsministers und der altgedienten Generäle überein. Die Unterschiede
zwischen ihnen bestehen alleine in der Einschätzung der Lage, was die Generäle
zu ihrer Kritik bewogen hatte.
Vielleicht wollten gerade diese erfahrenen Militärs
verhindern, dass die Erinnerung an die Zeiten wachgerufen werden, als
amerikanische Präsidenten schon einmal Demonstranten zu Hunderten
niederkartätschen ließen, weil sie für Bürgerrechte und gegen den Vietnam-Krieg
protestierten. Menschenrechte hin – Menschenrechte her.
Seinerzeit hielt man es anscheinend der Situation
angemessen, auf das eigene Volk zu schießen. Wären also die Umstände heute
andere, hätte selbst das hohe Gut der Menschenrechtsorientierung, das man immer
wieder gerne anderen Staatsführern unter die Nase reibt, kein Hindernis
dargestellt, nicht doch auf das eigene Volk anzulegen.
Von Balken und Splittern
Aber gelten solche Abwägungen zwischen den
Freiheitsrechten der Bürger und dem Schutz des Staates nur für die Demokratien
des Wertewestens? Gilt dasselbe Recht, die Stabilität des eigenen Staates und
der Gesellschaft sicherstellen zu wollen, nicht auch für den chinesischen Staat
und Hongkong? Während in Minneapolis und anderen amerikanischen Städten
Demonstranten für ihre Freiheitsrechte demonstrieren, von
amerikanischer Polizei zusammengeknüppelt und der amerikanischen Führung
verunglimpft werden, macht sich der Präsident der USA trotzdem für die
Freiheitsrechte stark, zwar nicht in Minneapolis, aber in Hongkong.
Er droht China mit weiteren Sanktionen, wenn die
chinesische Regierung dasselbe in Hongkong tut wie die amerikanische Regierung
in Minneapolis und etwa hundert anderen amerikanischen Städten, nämlich für die
Aufrechterhaltung der öffentliche Ordnung zu sorgen. Nach den Unruhen des
vergangenen Jahres in Hongkong mit gewalttätigen Ausschreitungen will die
chinesische Regierung mit einem neuen Sicherheitsgesetz dafür sorgen, dass sich
solches nicht wiederholt. Steht solches Vorgehen nur den Staaten des
Wertewestens zu?
Zwar ist noch nicht bekannt, was in diesem Gesetz
stehen wird, denn es ist ja auch nicht veröffentlicht, aber die Medien im
Westen wissen jetzt schon ganz genau, dass es die Freiheiten der Bürger einschränken
wird. In den Stimmungsberichten der Frankfurter Allgemeine Zeitung kommen nur
Kritiker dieses Gesetzes zu Wort. Auch sie kennen das Gesetz noch nicht,
dennoch wird ihnen reichlich Raum gegeben, ihre Befürchtungen zu äußern.
Was aber ist mit den Menschen in Hongkong, die sich
nach der Gewalt und den Ausschreitungen des letzten Jahres mehr Sicherheit
wünschen? Diese kommen in den Berichten der westlichen Medien nicht zu Wort.
Man tut so, als gäbe es solche Menschen in Hongkong und China nicht. Es wird
durch das Verschweigen solcher Stimmen der Eindruck erweckt, als gäbe es nur
Kritiker und Gegner des Gesetzes und der Regierungen in Hongkong und China.
Vielleicht sind die westlichen Medienvertreten auch mittlerweile durch den
Balken im eigenen Auge so blind geworden, dass sie nur noch das wahr nehmen,
was sie wahr haben wollen.
Die Schwäche des Westens
Besonders beunruhigt scheint der Wertewesten darüber
zu sein, dass die chinesische Regierung die Einflussnahme von NGOs auf die Vorgänge Hongkong in
Schranken weisen will. Diese hatten während der Unruhen erheblichen Einfluss
auf die sogenannte Demokratie-Bewegung. Aus Berichten der FAZ geht hervor,
dass auch die Zeitung selbst in ständigem Austausch und Kontakt mit deren
Vertreter stand.
Wie würden wohl die Vertreter des Wertewestens
reagieren, wenn die hiesigen Corona-Demonstrationen von chinesisch oder
russisch geförderten NGOs beeinflusst würden? Deutschen Medienvertretern und
Politikern ist ja schon die alleinige Existenz und Gegenöffentlichkeit der
russischen Medien RT und Sputnik ein Dorn im Auge. Und denen wurde bisher
keine Einflussnahme im Stile der westlichen NGOs vorgeworfen, geschweige
denn nachgewiesen.
Selbst während der Coronakrise und den derzeitigen
Unruhen in den USA hat keine der westlichen Regierungen Vorwürfe gegenüber
China erheben können, diese Schwäche der westlichen Staaten auszunutzen, um
Einfluss zu gewinnen und die Lage weiter zu destabilisieren. Diese
Zurückhaltung erlegt sich der Wertewesten nicht auf. Die Versuche, sich in
Hongkong und China einzumischen, gehen unvermindert weiter wie auch die
Absicht, die wirtschaftliche Entwicklung des Landes zu behindern.
Das ist eigentliche Hintergrund der Spannungen mit
China und der Einmischungsversuche vonseiten des Westens. China ist auf
dem Sprung, die Technologieführerschaft in der Welt zu übernehmen und dem
Westen in jedem Bereich wirtschaftlicher Entwicklung den Rang abzulaufen. Das
gelingt China durch Konzentration auf die eigene Kraft und die eigenen
Fähigkeiten, unterstützt durch die Geschlossenheit seiner Gesellschaft.
Vergleichbare Kraft zu entwickeln, gelingt dem Westen nicht mehr.
Seine Gesellschaften sind zerfressen durch die
widerstrebenden Interessen der gesellschaftlichen Gruppen. Deshalb sind sie
nicht mehr in der Lage, sich auf gemeinsame Ziele zu einigen, denen sich alle
Gesellschaftsmitglieder unterordnen, weil sie darin auch den gemeinsamen
Vorteil erkennen. Auf dieser Ebene ist der Westen China nicht gewachsen. Und
weil er dem Land nicht kraftvoll entgegentreten kann, bleibt nur, Chinas
Entwicklung zu behindern.
Die Menschenrechte der anderen
Das Aufbegehren der Katalanen, die Proteste der
Gelbwesten in Frankreich, in Deutschland gegen die Corona-Maßnahmen und in den
USA gegen die Polizeigewalt offenbaren die Zerrissenheit der westlichen
Gesellschaften. Je schwieriger es wird, die auseinanderstrebenden Interessen
der gesellschaftlichen Gruppen im Zaum zu halten, um so mehr greifen die
Regierungen des Wertewestens zu den Mitteln, die er immer nur als Maßnahmen von
Unrechtsstaaten dargestellt hatte. Umso schwieriger wird es auch, die
Unterschiede noch darzustellen zu können zwischen dem eigenen Verhalten und dem
jener Staaten und Regierungen, denen man die Missachtung der Menschenrechte
vorwirft.
Dabei ist die Bedrohungslage in den USA, Deutschland,
Frankreich und Spanien bei weitem nicht zu vergleichen mit den Angriffen, denen
sich Syrien, Venezuela, der Iran und letztlich auch Chinas Hongkong gegenüber
sahen. In den westlichen Staaten schlägt den Regierungen nur die
Unzufriedenheit von Teilen der eigenen Bevölkerung über die gesellschaftlichen
Zustände entgegen. Da sind keine Kräfte von außerhalb am Werke.
Da gibt es keine von außen finanzierten und mit Waffen
belieferten Milizen. Es stehen keine fremden Truppen im Land. Keine Stützpunkte
feindlicher Staaten befinden sich in Grenznähe und richten ihre Waffen auf das
eigene Staatsgebiet. Nicht einmal von fremden Kräften unterstützte NGOs treiben
dort ihr Unwesen. Dennoch sind die Abwehrmaßnahmen der Staaten des Wertewestens
kaum noch zu unterscheiden von denen der bedrängten „Schurkenstaaten“.
Aber trotzdem fühlt sich keine andere Regierung
aufgerufen, die Staaten des Wertewestens zur Ordnung zu rufen, wenn diese ihre
Bürger wie Feinde behandeln. Weder China, Russland, Venezuela, Iran, Syrien,
Nordkorea, Libyen oder all die anderen Staaten maßen es sich an, den westlichen
Staaten Lektionen zu erteilen, Vorschriften zu machen oder sie zu ermahnen,
sich nach ihren Wertvorstellungen zu verhalten und zu richten.
Während also der Westen immer wieder unter dem
Deckmantel von Menschenrechten glaubt, andern Völkern die eigenen Vorstellungen
von gesellschaftlichem Zusammenleben aufdrängen zu dürfen, bleibt er selbst von
diesen Einmischungsversuchen der Bedrängten weitgehend verschont.
Von Doppelmoral und Arroganz
Auf welcher Grundlage glaubt der Westen, anderen
vorschreiben zu dürfen, wie sie ihr gesellschaftliches Leben zu gestalten
haben? Würden sich die westlichen Staaten in innergesellschaftliches Leben
hineinreden lassen?
Was aber unterscheidet die gewalttätigen Demonstranten
in Minneapolis oder seinerzeit in Paris und in Katalonien von denen in
Hongkong? Was unterscheidet den Einsatz von Polizei, Nationalgarde und
eventuell der US-Armee im sogenannten Rechtsstaat von denen der
Sicherheitskräfte in Hongkong, das zum „Unrechtsstaat“ China gehört? Das fällt
den Vertretern des Wertewestens immer schwerer zu erklären. An die Stelle von
Argumenten treten Glaube und Dogma.
Und je schwieriger dieser propagandistische
Drahtseilakt wird, um so unverständlicher und verworrener werden die
Erklärungsversuche und Rechtfertigungen der Meinungsmacher im Westen. Die
antichinesische Propaganda entlarvt sich immer mehr als eine Mischung aus Neid
und Hilflosigkeit. Es ändert nichts an den Verhältnissen in China. Es geht ihr
nur um Einfluss auf das Denken der Menschen im eigenen Einflussbereich. Mit
Menschenrechten hat das nichts zu tun.
Wer es mit den Menschenrechten wirklich ernst meint,
soll im eigenen Land damit anfangen. Der soll den Menschen im eigenen Land eine
verlässliche Lebensgrundlage geben, damit sie nicht bei jedem
Konjunktureinbruch um ihren Arbeitsplatz bangen und sich um die Zukunft ihrer
Kinder sorgen müssen. Der soll dafür sorgen, dass in Epidemien genug Betten,
Beatmungsgeräte, Schutzmasken und gesundes Pflegepersonal vorhanden sind. Der
soll dafür sorgen, dass man sicher sein kann vor staatlicher Gewalt und
Kriminalität. Der soll dafür sorgen, dass die Menschen in Frieden zusammen
leben können. Wenn die Menschen sich achten, klappt es auch mit den Werten.
Zündeln in Hongkong
Seit Wochen liefern die Proteste in Hongkong die
Schlagzeilen für die westlichen Medien. Welche Teile der Bevölkerung sich an
dem Protest beteiligen und welche Interessen außer denen der Hongkonger
Geschäftswelt im Spiel sind, kann im Moment noch nicht klar gesagt werden 1.
Besondere Bedeutung scheinen westliche Kräfte dem Verhalten der Hongkonger
Mittelschicht beizumessen. So schreibt die Frankfurter Allgemeine Zeitung, dass
die Protestierenden„die Sympathie von großen Teilen der Hongkonger
Mittelschicht“2 genießen.
Andererseits scheint das Wohlwollen der Bevölkerung nicht so eindeutig zu sein,
wie die FAZ den Eindruck zu erwecken versucht.
So hatte sie bereits Anfang Juli nach der Besetzung
des Hongkonger Parlaments durch Vertreter der Protestbewegung von „Rissen
in den Reihen der Demonstranten“3 gesprochen.
Schon damals hatte man befürchtet, dass die Bilder von beschmierten Wänden,
zerschmetterten Scheiben und zertrümmerten Sicherheitskameras „die
Protestbewegung in der Bevölkerung einige Sympathien kosten und der Regierung
in die Hänge spielen“ könnte4.
Als dann Mitte August von „Demonstranten in
der Nähe von Polizeistationen Brandbomben geworfen worden“5 und
der Flugverkehr durch die Besetzung des Hongkonger Flughafens über Stunden
stillgelegt worden war, hatte Peking die Hongkonger Bevölkerung
aufgefordert, „sich von allen gewaltbereiten Elementen zu distanzieren“6.
Anscheinend passte diese Aufforderung Pekings zur Stimmungslage in der Stadt.
Denn am Tag danach sahen sich die Aktivisten gezwungen,
sich für ihre Gewalt gegenüber chinesischen Polizisten während der
Flughafenbesetzung öffentlich zu entschuldigen. Nachdem sich eine Flut von
Kritik über jene Demonstranten in den Foren ergossen hatte, stand zu
befürchten, „dass hässliche Szenen wie jene vom Dienstagabend sie die
Unterstützung der Bevölkerung kosten können, ohne die die Bewegung schnell am
Ende wäre“7. Zudem
scheinen Befürchtungen zuzunehmen, „eine weitere Verschlechterung der
wirtschaftlichen Lage könnte der Bewegung die Unterstützung durch die
Mittelschicht entziehen“8.
Es scheint also nach Einschätzung der FAZ sehr viel
von dieser Mittelschicht abzuhängen, der sich die Zeitung besonders verbunden
zu fühlen scheint. Denn wie in den westlichen Medien selbst so sieht die
Frankfurter in der an „freie Rede gewöhnte Hongkonger
Mittelschicht“ 9 einen
Verbündeten im Kampf gegen die Kommunistische Partei Chinas.
In ihr sehen die westlichen Medien mehr noch als das
westliche Kapital selbst den Hauptfeind trotz aller wirtschaftlichen
Verflechtungen und Vorteile für deutsche und westliche Unternehmen. Denn
während den westlichen Industrien der chinesische Markt offen steht, ist er den
westlichen Medienunternehmen weitgehend verschlossen und damit auch der
Werbemarkt des Riesenreiches. Das erklärt die Feindseligkeit der westlichen
Medien gegenüber China, aber auch gegenüber Russland, Iran und anderen, die
nicht nur deren Vorstellung von Meinungsfreiheit unterdrücken sondern ganz
besonders auch deren Wunsch nach Werbefreiheit.
Von der Stimmung anderer gesellschaftlicher Gruppen
außerhalb der Geschäftswelt, des Mittelstands und des intellektuell-akademischen
Milieus berichtet die FAZ dagegen nicht. Nur einmal erwähnt sie den Stadtteil
North Point, den sie als Hochburg von pro-Pekinger Kräfte bezeichnet, die in
Loyalität zu Peking eine Flaggenparade abhalten. Es scheint also auch Kräfte zu
geben in Hongkong, die nicht in das Bild zu passen scheinen, das die FAZ von
der Lage vorort zeichnet. Vermutlich hat sie keine Kontakte zu Menschen dieser
Kreise oder ihr ist an deren Interessen und Sichtweise nicht gelegen.
Außerchinesische Kräfte
Bekannt wurde in der Zwischenzeit, dass „die
amerikanische Stiftung National Endowment for Democracy (NED) prodemokratische
Kräfte in Hongkong finanziell“10 unterstützt.
Sehr aufschlussreich ist die Haltung der FAZ zu dieser Tatsache, die man über
mehrere Zeile zuvor noch in die Nähe von Verschwörungstheorien und Propaganda
zu bringen versucht hatte. Denn dann gibt die Zeitung unumwunden zu, dass die
Unterstützung, die man wenig zuvor noch zu leugnen versucht hatte, „freilich
für eine politische Stiftung, die sich der Förderung politischer Werte
verschrieben hat, nicht ungewöhnlich ist“11.
Es wird also als das selbstverständliche Recht
westlicher „pro-demokratischer“ Kräfte angesehen, sich in die
inneren Angelegenheiten anderer Staaten einzumischen und gewaltbereite Kräfte
zu unterstützen. Es sei hier erinnert an die Empörung im Westen, als der
Verdacht aufkam, dass Russland die US-Präsidenten-Wahlen beeinflusst haben könnte.
Was bis heute nicht bewiesen werden konnte, ist im Falle der Einmischung
vonseiten des Westens in Hongkong unzweifelhaft.
Da nun nicht mehr leugnen schien, was lange
verheimlicht worden war, wird nun als Vorrecht des Westens dargestellt. Nicht
wer mit zweierlei Maß misst, wird der Heuchelei bezichtigt, sondern wer es
offenlegt. So wurde zudem wird auch noch gemeldet, dass die amerikanische
Diplomatin Julie Eadeh, sich „vergangene Woche mit dem
Demokratieaktivisten Joshua Wong getroffen hatte“12.
Auch die Deutschen mischen mit. Bei seiner Chinareise
hielt sich Christian Lindner von der FDP zunächst in Hongkong auf, „wo er
ein Büro der Friedrich-Naumann-Stiftung eröffnete und Gespräche mit
Oppositionspolitikern führte“13.
Aber es blieb nicht nur bei der Eröffnung, sondern er hielt darüber hinaus eine
öffentliche Ansprache, bei der er klar stellte, dass aus seiner Sicht „wirtschaftliche
Freiheit und gesellschaftliche Freiheit zusammengehören“14. Das
erinnert doch sehr stark an die Ereignisse auf dem Kiewer Maidan, als sich dort
westliche Politiker die Klinke in die Hand gaben, um mit ihren Erklärungen politischen
Einfluss auf die Ereignisse zu nehmen.
Nun wäre es realitätsfremd, die Hongkonger Ereignisse
alleine auf die Einflussnahme externer Kräfte zurückführen. Es scheint
ernsthafte Konflikte in Teilen der Bevölkerung zu geben im Verhältnis zu
Peking. Diese tieferen Ursachen und Hintergründe werden aber aus den Berichten
der westlichen Medien nicht erkennbar. Dort beschränkt man sich auf das lieb
gewonnene Erklärungsmuster des Kampfes einer Bevölkerung, die Demokratie
fordert, gegen den übermächtigen Druck der kommunistischen Partei Chinas.
Dass der Westen diese Unruhen für die eigenen
Interessen nutzt und versucht, Einfluss in Hongkong zu gewinnen oder
auszubauen, dürfte nicht auszuschließen sein. Schon im Vorfeld hatten die
westlichen Medien den dreißigsten Jahrestag der Ereignisse auf dem Platz des
Himmlischen Friedens in Peking umfassend in Erinnerung gerufen. Inwiefern die
Vorgänge in Hongkong mit der Erinnerung an die Geschehnisse vor dreißig Jahren
zusammenhängen, kann hier nicht festgestellt werden. Was aber erkannt werden
kann, ist die doppelzüngige Einstellung westlicher Medien zur Gewalt.
Wenn auch die Teilnehmer der Bewegung in Hongkong
Straßen und den Zugang zu Gebäuden blockieren, sogar das Hongkonger
Parlamentsgebäude und den Flughafen besetzen, und den Flugverkehr über Stunden
lahm legen, also Sachschäden anrichten und Gewalt anwenden, werden sie dennoch
von der FAZ sehr wohlwollend als „prodemokratische Kräfte“ bezeichnet.
In diesen Ruf kamen die Besetzer des Hambacher Forstes bei der FAZ und dem Rest
der deutschen Medien nie. Auch die französischen Gelbwesten wurden in erster
Linie als Gewalttäter dargestellt, ihre politischen und wirtschaftlichen
Forderungen gingen in den Medien unter.
Aber es geht nicht um Demokratie oder sonstige
westliche Werte. „Das Aufbäumen in Hongkong ist zugleich der
sichtbarste Beleg für die mangelnde Strahlkraft des chinesischen Traums.“15. Wenn
schon der amerikanische Traum keine Strahlkraft mehr hat in der Welt, dann soll
er nicht noch überstrahlt werden vom chinesischen.
Wenn der wirtschaftliche Aufstieg Chinas schon nicht
verhindert werden kann, dann soll doch wenigstens nicht auch noch das
chinesische Gesellschaftsmodell sich dem westlichen überlegen zeigen. Darum
geht’s.