Basteln am Informal Empire

WeltTrends Institut für Internationale Politik
Wolfram Wallraf 


Der historisch angelegte Vergleich versucht, Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen dem Aufstieg der USA zur Weltmacht in der Mitte des vergangenen Jahrhunderts und der weltpolitischen Agenda der VR China im frühen 21. Jahrhunderts zu identifizieren.

Wir werden Zeuge der Geburt eine neuen Weltmacht, die nicht nur ihre enorme Wirtschafts- und Finanzkraft, ihr politisch-diplomatisches Gewicht und ihre militärische Statur, sondern auch ihre wachsende soft power im Sinne kommunikativer interkultureller Kompetenz und ihrer Vorbildwirkung für Modernisierungserfolg in der Dritten Welt nutzt, um multilaterale Netzwerke und internationale Regime aufzubauen.

Dem wachsenden ordnungspolitischen Einfluss der VR China in globalen und regionalen Zusammenhängen gegenüber steht der Rückzug der USA aus multilateralen Verbindungen und Verantwortlichkeiten, gepaart mit Ignoranz gegenüber internationalen Normen und Interessenlagen der Partnerstaaten.

Kurz gesagt: Die USA reduzieren ihr multilaterale Engagement, China bringt sich mit eigenen Ideen und Interessen immer stärker ein.

Deutschland und die EU stehen mittendrin und müssen dringend eine Antwort darauf finden.

Pax Americana

Als die USA in der Mitte der 1940er Jahre zur weitaus stärksten Wirtschaftsmacht der Welt aufstiegen und der Sieg über die Achsenmächte immer näher rückte, begann unter den amerikanischen Eliten eine breite Diskussion über die Gestaltung der Nachkriegsordnung und die internationale Positionierung der Vereinigten Staaten. Die alte Welt war aus den Fugen geraten.

Weite Teile Europas und Asiens lagen zerstört. Jüngere dynamische Antagonisten wie Deutschland und Japan waren ausgeschaltet.

Die alten Großmächte wie England und Frankreich mit ihren Kolonialreichen gingen massiv geschwächt aus dem Krieg hervor.

Die Sowjetunion, welche die Hauptlast am Sieg gegen die Achsenmächte getragen, hatte erheblichen Einfluss auf die Gestaltung der Nachkriegsverhältnisse gewonnen.

China hatte sich aus der Umklammerung westlicher wie östlicher Imperialismen befreit, der „schlafende Riese“ begann aufzuwachen.

Die US-amerikanische Industrie hatte durch den staatsmonopolistisch gesteuerten Aufbau der Kriegswirtschaft einen enormen Aufschwung erfahren, der sich sowohl in überbordenden Produktionskapazitäten als auch in überlegener technologischer wie preislicher Wettbewerbsfähigkeit niederschlug.

Zentrale Herausforderung war, die Umstellung der staatlich finanzierten Rüstungswirtschaft auf die Marktverhältnisse der Nachkriegszeit ohne wirtschaftlichen Einbruch zu bewerkstelligen. In einem durchaus repräsentativen Papier des Council on Foreign Relations aus dem Jahr 1944 heißt es dazu: „Aus dem Krieg mit enorm ausgeweiteten Produktionskapazitäten hervorgehend, werden die Vereinigten Staaten ein eindeutiges Interesse am freiestmöglichen Zugang zu ausländischen Märkten haben“.

Gefordert wurde eine Neuorganisation der Weltwirtschaft mit dem Ziel, alle Hemmnisse für den Fluss von Waren und Kapital abzubauen und einen freien Zugang zu allen Märkten und Rohstoffen weltweilt zu sichern.

Eine konsequente Liberalisierung der Weltwirtschaft war natürlich unvereinbar mit einer Fortsetzung der herkömmlichen imperialistischen Aufteilung der Welt in Kolonialreiche und politischmilitärisch abgegrenzte Einflusssphären.

Mit dem Begriff der „Einen Welt“ (One World) wurde eine globale politisch-institutionelle Neuordnung unter amerikanischer Dominanz – dem Informal Emire – auf die Tagesordnung gesetzt. Eng verwoben mit der Reflexion der geopolitischen Umbrüche und der weltwirtschaftlichen Agenda war die Debatte um die künftige weltpolitische Positur der USA.

Isolationistische Strömungen, die noch vor dem 2. Weltkrieg erheblichen Einfluss auf die amerikanische Außenpolitik ausübten, verloren rasant an Gewicht. Im Aufwind befanden sich die messianisch aufgeladenen Protagonisten eines amerikanischen Jahrhunderts, in dem die USA erstmals in der Geschichte eine dominierende Machtstellung einnehmen würden und die amerikanischen Normen und Werte, der American Way of Life, als Blaupause für die übrige Welt gelten sollte.

In dieser Gemengelage wurde das Konzept der Pax Americana geboren, die Weltordnung zu amerikanischen Bedingungen.

Die UNO wurde gegründet und erhielt ihren Sitz in New York. Zum informal empire, dem multilateralen System unter amerikanischer Dominanz zählten System von Bretton Woods, Weltbank und Internationaler Währungsfonds ebenso wie die Militärbündnisse NATO, SEATO und CENTO, ergänzt durch zahlreiche Regionalorganisationen und bilaterale Sicherheitspakte.

Die USA etablierten sich als Garantiemacht dieser Weltordnung und profitierten von dieser Rolle in vielfältiger Weise:

Durch ungehinderten Zugang ihrer wettbewerbsstarken Industrie und Finanzinstitutionen zum Weltmarkt.

Durch die Funktion des Dollar als globaler Leit- und Reservewährung.

Durch ein weltumspannendes Netz von Militärbündnissen und Stützpunkten.

Und nicht zuletzt durch den Umstand, dass die internationalen Regeln erheblich nach amerikanischem Gusto formuliert werden konnten und viele internationale Institutionen personell wie inhaltlich durch die USA geprägt waren.

Heute nun sind wir ebenso staunender wie betroffener Zeuge eines grundstürzenden Systemwandels der amerikanischen Außenpolitik:

Weg von der aufwendigen, aber profitablen Funktion eines Hüters der einst selbst geschaffenen globalen Ordnung hin zu einer Rolle als stärkster Hecht im Karpfenteich, den Multilateralismus und internationale Regime bei der möglichst ungestörten Durchsetzung seiner Interessen nur behindern können…

Der chinesische Weg

Obwohl es sich verbietet, gedanklich schlichte Analogien zwischen den USA und China beim Aufstieg zur Weltmacht zu setzen, mag ein Vergleich der Prozesse und Strategien doch reizvoll und erhellend sein.

Im historischen Vergleich muss man nicht notwendigerweise in Zeiten zurückgehen, als Nordamerika und China selbst noch Objekt kolonialer Herrschaft waren, zumal sich die koloniale Unterdrückung diesseits und jenseits des Pazifiks in Betracht auf Intensität, Instrumente und Zahl der Menschenopfer krass unterschied.

Und zumal sich China in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts durch die amerikanischen Doktrin der Open Doors selbst dem Übergriff eines informal empire ausgesetzt sah.

Beginnen wir eher Deng Xiaoping, der mit seiner Reform- und Öffnungspolitik den Dogmatismus und Isolationismus der „Viererbande“ überwand und das Riesenreich auf die Schiene einer exportgetriebenen Industrialisierung setzte, die viele hundert Millionen aus den Armut befreite und die chinesische Gesellschaft in die Moderne katapultierte…

Inzwischen wird das chinesische Wirtschaftswachstum in weit höherem Maße durch den schnell wachsenden und durch staatliche Infrastrukturinvestitionen befeuerten Binnenmarkt angetrieben, als dies bei uns medial und politisch wahrgenommen wird.

Dennoch bleibt der freie Zugang zum Weltmarkt angesichts der enorm ausgeweiteten industriellen Produktionskapazitäten eine notwendige Voraussetzung, wenn der Massenwohlstand weiter verbreitert, die soziale Stabilität gewahrt, die ökologische Katastrophe verhindert und letztlich die politischen Herrschaftsverhältnisse nachhaltig gesichert werden sollen.

Freier Zugang zum Weltmarkt bedeutet für China nicht nur barrierefreie Exporte von Industriegütern, sondern auch die dauerhafte und verlässliche Beseitigung der Hemmnisse für Kommunikationstechnologien und den damit verbundenen Dienstleistungen, für Technologietransfer und für Direktinvestitionen.

Ebenso wichtig ist es für Beijing, die Verwundbarkeit gegenüber amerikanischen / westlichen Sanktionsmaßnahmen im Finanz- und Währungsbereich abzubauen.

Machtpol in neuen multilateralen Strukturen

Für die Strategie, den Weltmarkt für die chinesische Wirtschaft so weit wie möglich zu öffnen und gleichzeitig den Einfluss auf die Gestaltung der globalen Ordnung zu stärken, hat das Reich der Mitte ein ganzes Instrumentarium an Mitteln und Wegen initiiert, mobilisiert oder mitentwickelt, u.a.:

New Development Bank in Shanghai, gegründet 2014 von den BRICS-Staaten Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika als Alternative zu Weltbank und Internationalem Währungsfonds. (41 % der Weltbevölkerung, 25 % des weltweiten BIP, 42 % der weltweiten Devisenreserven), Contingency Reserve Arrangement von 100 Mrd. $, davon hält China 41 %.

Asiatische Infrastrukturinvestmentbank (AIIB) in Beijing, gegründet 2015 von siebenundfünfzig Staaten als Alternative zur Asiatischen Entwicklungsbank / Weltbank /IWF. Jährlich ca. 10 Mrd. $ für Infrastrukturprojekte. Anteil Chinas 26,5 % (BRD: 4,6 %).

Projekt „Neue Seidenstraße“ (One Belt, One Road, seit 2013): Bündelung von Vorhaben zum Auf- und Ausbau interkontinentaler Handels- und Infrastrukturnetze zwischen der China und über 60 Ländern Afrikas, Asiens und Europas. Das Konzept ist institutionell höchst flexibel. Es nutzt Schnittstellen zu bestehenden multiund bilateralen Kooperationsstrukturen, um ein chinazentriertes Netzwerk aufzubauen, das die internationale Ordnung in kleinen Schritten transformiert. Ein großer Unterschied zu konkurrierenden Akteuren besteht darin, dass China bei Bedarf sofort gewaltige Kapitalmengen bereitstellen kann und nicht bei hehren Worten bleiben muss.

Abkommen über die Gründung einer gemeinsamen Freihandelszone zwischen China und den Vertragsstaaten der ASEAN (ACFTA), in Kraft seit 2005. Der Zollabbau im „Normal Track“ wurde für Brunei, Indonesien, Malaysia, Philippinen, Singapur und Thailand im Jahr 2010 abgeschlossen, für Vietnam im Jahr 2018. Der Zollabbau im „Sensitive Track“ für „sensible und hochsensible Waren“ soll bis 2020 abgeschlossen werden. Zusatzprotokoll von 2012: Regelungen zu nichttarifären Handelshemmnissen. Änderungsprotokoll 2015: Festsetzung von Local-Content-Bestimmungen.

Eine dezidiert auf Zentral- und Südasien ausgerichtete Struktur ist die Shanghai Organisation für Zusammenarbeit (SOZ) mit Sitz in Peking, die 2001 gegründet wurde und aus der 1996 gegründeten Shanghai Five hervorgegangen war. Mitglieder sind China, Indien, Kasachstan, Kirgisistan, Pakistan, Russland, Tadschikistan und Usbekistan. Im Unterschied zu den oben genannten Organisationen spielen Fragen der regionalen Sicherheit und politischen Zusammenarbeit neben der Wirtschaftskooperation eine hervorgehobene Rolle. Die thematische Zusammensetzung erleichtert es zudem, dass sich China und Russland auf Augenhöhe begegnen und verständigen können.

Mit der 2014 gegenründeten Eurasischen Wirtschaftsunion (EAWU), der heute Russland, Kasachstan, Weißrussland, Armenien und Kirgistan angehören und das Ziel verfolgt, einen gemeinsamen Binnenmarkt für Waren, Kapital, Dienstleistungen und Arbeitskräfte sowie eine Zollunion zu etablieren, führt China seit 2015 Verhandlungen über ein Freihandelsabkommen und über wirtschaftliche Zusammenarbeit.

Kampf um ordnungspolitische Dominanz

Nicht alle chinesischen Initiativen waren erfolgreich. China Ebenso ist immer wieder mit handelspolitischen Containment-Aktionen konfrontiert, mit denen die USA, Japan und auch die EU versuchen, ihre eigenen ordnungspolitischen Vorstellungen zum Welthandel durchzusetzen und das Reich der Mitte zu isolieren.

Im Februar 2016 wurde von 12 Anrainerstatten unter Ausschluss Chinas der Freihandelsvertrag Trans Pacific Partnership (TPP) unterzeichnet. Das Vertragswerk war ein zentrales Projekt der ObamaAdministration gewesen, aber von Präsident Trump im Januar 2017 aufgekündigt. Die verbliebenen Vertragspartner Japan, Kanada, Australien, Neuseeland, Mexiko, Chile, Peru, Vietnam, Malaysia, Brunei und Singapur schlossen dann im März 2018 den Vertrag unter dem Namen Comprehensive and Progressive Trans Pacific Partnership (CPTPP) ab.

Chinas Antwort auf das TPP-Projekt war die Initiative für ein ostasiatisch-pazifisches Freihandelsabkommen unter dem Namen Regional Comprehensive Economic Partnership (RCEP). Die Verhandlungen zu diesem Abkommen starteten offiziell bereits im Jahr 2012 auf dem ASEANGipfeltreffen in Phnom Penh. Ursprünglich sollte neben China, den 10 ASEAN-Staaten, Japan, Südkorea, Australien und Neuseeland auch Indien einbezogen werden. Die USA zogen sich bald zurück. China strebt ein substanzielles Abkommen an, dass in einem überschaubaren Zeitraum zu einem effektiven Freihandel bei Industrieerzeugnissen, Investitionen und Finanzdienstleistungen führt.

Vor allem Japan, die ozeanischen Partner, Südkorea und einige ASEAN-Staaten setzen sich für wirksame Regeln in den Bereichen Verbraucherschutz, Sozialstandards und Umwelt ein. Auf ihrem Gipfeltreffen am 04.11.2019 erklärten 15 der 16 Partnerstaaten die Verhandlungen zu allen 20 Kapiteln des Abkommens für beendet und sprachen sich für eine Unterzeichnung des Vertragsdokuments im kommenden Jahr aus. Lediglich von indischer Seite wurde weiterer Verhandlungsbedarf geltend gemacht, was aus heutiger Sicht sowohl einen Vertragsabschluss ohne Indien oder weiter eine weitere Verzögerung bedeutet, was möglicherweise im Interesse einiger amerikanisch bzw. westlich orientierter Verhandlungspartner liegen könnte.

Im Zuge der Öffnungspolitik unter Deng Xiaoping suchte China einen Zugang zu den bereits bestehenden multilateralen Kooperations- und Kommunikationsstrukturen, auch wenn diese von den weltpolitischen Gegenspielern geprägt bzw. beherrscht waren. So begannen die Kontakte zur ASEAN und zur APEC.

Die Asia-Pacific Economic Cooperation (APEC) ist nach wie vor die einzige multilaterale Organisation, der mit Ausnahme Nordkoreas alle Pazifikanrainer angehören. Sie wurde 1989 auf Initiative der USA, Japans und Australiens gegründet, China trat 1991 bei. Seit 1993 kommt es zu jährlichen Gipfeltreffen („Leaders‘ Meetings“), wo neben wirtschaftspolitischen Themen auch Kooperationsansätze in Bildung, Wissenschaft, Umweltschutz und internationaler Sicherheit angesprochen werden. Die APEC agiert auf der Basis nicht-bindender Abkommen. Alle Entscheidungen des Forums werden im Konsens getroffen.

Die Initiative von 1994, eine Freihandelszone im asiatisch-pazifischen Raum für die Industrienationen bis 2010 und für die Entwicklungsländer bis 2020 auf der Grundlage unilateraler Aktionspläne der Mitgliedstaaten zu erschaffen, scheiterte. Seit 2002 sind auch bilaterale oder multilaterale Abkommen untereinander zugelassen, wenn sie den Regeln der WTO entsprechen. China nutzt die APEC vornehmlich als Plattform, um seine weltwirtschaftlichen und weltpolitischen Vorstellungen darzulegen und die eigenen regionalen Kooperationsinitiativen zu proagieren. Seit Beginn der Präsidentschaft von Trump haben die wachsenden chinesisch-amerikanischen Gegensätze die APEC nahezu paralysiert.9

Ordnungspolitische Bausteine einer Pax Sinica

China hat in den vergangenen Jahren seine Entwicklungshilfe in Afrika und Lateinamerika ausgebaut und neu ausgerichtet. Auch hier wurde darauf geachtet, eine Alternative zu den westlichen Angeboten zu profilieren. Dies betrifft nicht allein die schieren Mengen in Kapital, die China zu Verfügung stellen kann…

Zwangsmaßnahmen wie Sanktionen oder Boykotte werden vermieden, China will sich als verlässlicher und fairer Partner profilieren.

Wie auch in den oben genannten multilateralen Projekten generiert China welt- und regionalpolitische Macht durch den Export eigener wirtschaftlicher Ordnungsvorstellungen, was immer auch eine soziale und politische Komponente umfasst.

Wir sehen also den Aufbau einer Weltmachtstatur durch Initiierung und Prägung multilateraler Netzwerke, internationaler Regime, regionaler Kooperationsverbände und einer Vielzahl von bilateralen Projekten.

Mehr oder weniger deutlich wird dabei die Herausforderung formuliert, ordnungspolitische Alternativen zu den tradierten amerikanisch bzw. westlich dominierten Institutionen anzubieten, die den Ansprüchen des 21. Jahrhunderts besser Genüge tun.

Insbesondere die Protagonisten der „Neuen Seidenstraßen“ betonen die Überlegenheit des Modells, die sich aus der „Win-Win-Situation“ durch gemeinsame Planung, aus der Offenheit für alle interessierten (auch extraterritorialen) Partner, aus die Schubkraft für das globale Wirtschaftswachstum und aus dem Entwicklungsschub für die bislang benachteiligten Regionen in Zentralasien ergäbe.

Häufige Schlagworte sind: friedlich, offen, integrativ und voneinander lernen.

Bislang ist es dabei gelungen, die westliche Strukturdominanz auf zentralen Feldern von Weltwirtschaft und Weltpolitik in kleinen Schritten zu verringern oder zu konterkarieren, dabei aber einen massiven machtpolitischen Zusammenprall mit der arrivierten Weltmacht USA noch zu vermeiden. Es ist eben eine Langzeitstrategie.

Informal Empire und Soft Power

Ein wesentlicher Bestandteil eines informal empire ist soft power: Die Verbreitung und Vorbildwirkung der eigenen Kultur. Der Unternehmenskultur und Vertragskultur, der Kultur der sozialen Beziehungen, der Massen- und Konsumkultur. Die Amerikaner haben es vorgemacht. Aber China verfügt mit seiner tradierten kulturellen Ausstrahlung, seiner kommunikativen und interkultureller Kompetenz, seiner Vorbildwirkung für Modernisierungserfolg in der Dritten West und zunehmend auch mit den Highlights von Massenkonsum und Pop-Kultur ebenfalls über erhebliche Potenziale. Mit jeder neuen multilateralen Kooperationsstruktur, die von China angeschoben wird und von chinesischen Regeln geprägt ist, wächst auch die die soft power des Reichs der Mitte. Zur Illustration eine Passage aus der Rede von Xi Jingping auf der 1. Tagung des 13. Nationalen Volkskongresses:

„China unterstützt auch in Zukunft weltweite Gerechtigkeit und plädiert dafür, die Angelegenheiten zwischen den verschiedenen Ländern durch Konsultationen beizulegen.

In diesem Sinne darf niemand einem anderen seinen Willen aufzwingen. China wird weiterhin den Seidenstraßen-Aufbau vorantreiben und den Austausch und die Zusammenarbeit mit allen Ländern weltweit ausbauen.

Chinas Reform und Entwicklung sollen der ganzen Menschheit zugutekommen. China wird sich kontinuierlich an Reform und Aufbau eines globalen Verwaltungssystems beteiligen und der Welt Weisheiten, Konzepte und Kräfte geben.“

Risiken und Gefahren

Um nicht missverstanden zu werden: Hier wird keine lineare Entwicklung vorgezeichnet, in deren Ergebnis die VR China „gesetzmäßig“ zum Beherrscher der Welt wird. Die Zukunft ist niemals sicher vorhersehbar und nirgendwo ist postuliert, dass Chinas Aufstieg zur Weltmacht unaufhaltsam ist. Ich sehe eine ganze Reihe von Risiken und Gefahren, die dem Land und seiner Gesellschaft massiven Schaden zufügen können und jegliche Weltmachtträume platzen lassen, wenn sie nicht bewältigt werden.

Von einiger Aktualität ist die Herausforderung durch den Islamismus, der in den muslimisch geprägten Landesteilen im Westen des Großreichs offenbar wachsenden Einfluss erfährt und durch die Glaubensbrüder in den Nachbarstaaten ideell wie materiell unterstützt wird. Wenn sich die bereits bestehenden ethnisch-kulturellen wie auch sozio-politischen Konflikte zuspitzen und gewaltförmige Dimensionen annehmen, können…

Wesentlich gravierender als die oben genannten Herausforderungen sind die Entwicklungen im Kern des politischen Herrschaftssystems selbst. Das Grundkonzept des Reformkurses seit Deng Xiaoping wird offen infrage gestellt.

Der staatlich gesteuerte, aber kapitalgetriebene Weg in die industrialisierte Moderne, in dem „die Einen schneller reich werden, als die Anderen“, hat zu bedrohlichen ökonomischen, sozialen und ökologischen Verwerfungen geführt. Die Spreizung zwischen arm und reich ist nahezu doppelt so hoch wie etwa in Deutschland und immer noch deutlich höher als in den USA und den anderen OECD-Staaten…

Auf der ideologischen Ebene wird der Führungsanspruch durch eher pragmatische Rückgriffe auf Marx, Lenin, Mao und Deng, auf traditionelle chinesische Denkschulen sowie auf theoretische Innovation der aktuellen politischen Führung untersetzt. Der Kurs, der auf dem 19. Parteitag im Jahr 2017 eingeschlagen wurde, ist eindeutig darauf ausgerichtet, den kapitalistischen Tiger durch Zusammenführung von Partei und Staat zu einem mächtigen Regulierungsapparat wieder zu bändigen, um den Wohlstand gleichmäßiger zu verteilen, die Zerstörung der Umwelt aufzuhalten, die nationale Einheit zu sichern und die außenpolitische wie auch militärstrategische Handlungsfähigkeit die stärken.

Die „14 Prinzipien für die Sicherung und Entwicklung des Sozialismus chinesischer Prägung in der neuen Ära“, die Xi Jinping auf dem 19. Parteitag verkündete, weisen mit ihrer Staatszentriertheit, dem konsequenten Primat der Gemeinschaft gegenüber dem ökonomischen und sozialen Individuum sowie dem umfassenden Herrschaftsanspruch der Kommunistischen Partei durchaus maoistische Züge auf.

Hinzu kommt, dass im Zuge der innerparteilichen Machtkämpfe mit dem zeitlich unlimitierten Führungsmandat für Xi Jinping das bewährte Prinzip des regelmäßigen Austauschs der Führungsspitze fallen gelassen wurde. Dieses Prinzip war seit Deng Xiaoping verfolgt worden und sorgte für regelmäßige personelle sowie inhaltliche Erneuerung, verbunden auch mit einer gewissen Absicherung gegenüber etwaigen Herrschaftsauswüchsen – eine erstaunliche Leistung für ein politisches System, das keine Wettbewerbsdemokratie ist. Alles in allem macht nachdenklich, ob der neue Kurs wirklich geeignet ist, die Defizite der Reformperiode zu überwinden, ohne die wirtschaftliche Dynamik, den massenwirksamen Wohlstandsgewinn, den sozialen Zusammenhalt und letztlich auch die politische Stabilität zu unterminieren.

Risiken und Gefahren sind Bestandteil von Entwicklung. Sie nicht zu nennen, wäre unseriös und naiv, schlimmstenfalls apologetisch.

Aus heutiger Sicht deutet jedenfalls wenig darauf hin, dass das Reich der Mitte wieder einmal dabei ist, sich nach innen zu wenden. Auf absehbare Zukunft werden wir uns mit einem gut fundierten Weltmachtanspruch der VR China auseinanderzusetzen haben.

Fazit

Dem wachsenden ordnungspolitischen Einfluss der VR China in globalen und regionalen Zusammenhängen gegenüber steht der Rückzug der USA aus multilateralen Verbindungen und Verantwortlichkeiten, gepaart mit Ignoranz gegenüber internationalen Normen und Interessenlagen der Partnerstaaten. Kurz gesagt:

Die USA reduzieren ihr multilaterale Engagement, China bringt sich mit eigenen Ideen und Interessen immer stärker ein.

Deutschland und die EU stehen mittendrin und müssen dringend eine Antwort darauf finden, wenn eine selbstbestimmte Zukunft bewahrt werden soll.

Die EU sieht sich durchaus als potenziell eigenständiger Machtpol in einer multipolaren Weltordnung, die allerdings immer stärker von der sino-amerikanischen Rivalität bestimmt wird.

Um nicht Spielball dieser Rivalität zu werden, bräuchte es eine gemeinsame Strategie, die dann auch gemeinschaftlich umgesetzt wird.

Das Dilemma besteht darin, dass eine gemeinsame Herangehensweise bislang auf keinem relevanten Politikfeld konzipiert und umgesetzt werden konnte. Selbst in der Außenwirtschaftspolitik, die an sich eine rein Brüsseler Angelegenheit sein sollte, zeigen sich gravierende Differenzen zwischen den Mitgliedstatten in Bezug auf Ziele und Methoden. Oftmals besteht noch nicht mal ein nationaler Konsens zum Umgang mit dem Reich der Mitte…

Noch immer gibt es Hoffnungen, selbst in Fragen der Weltwirtschaftsordnung wirkungsmächtige „liberale“ Koalitionen der Willigen unter Ausschluss Chinas

 Selbst in Deutschland fehlt es noch immer an einer wirklich offensiven und konstruktiven Gesamtstrategie gegenüber China, die gleichermaßen von Selbstbewusstsein und Selbstreflexion geprägt ist.

Warum nicht das Stichwort vom gegenseitigen Lernen auch in ordnungspolitischen Fragen aufnehmen? Vielleicht gäbe es auch bei uns Anlass, neu über die Rolle des Staates in der Wirtschaft, über das Verhältnis von Gemeinwesen und Unternehmertum oder über die am besten geeigneten Eigentums- und Organisationsformen in Infrastruktur und Daseinsvorsorge nachzudenken.

Vielleicht kann man auch in China überlegen, ob ein offener politischer Wettbewerb samt der dafür notwendigen Voraussetzungen auf Dauer nicht doch die größte Nachhaltigkeit bringt.

Wolfram Wallraf geb. 1952. Studium am Moskauer Staatlichen Institut für Internationale Beziehungen. Politikwissenschaftler mit den Schwerpunkten Japan und Ostasien, internationale Sicherheit, wirtschaftliche Integration und regionale Konflikte. Dozent am Institut für Internationale Beziehungen Potsdam/ Babelsberg (1978–1990). Lehrtätigkeit an der Universität Potsdam, Gastdozenturen an der Humboldt-Universität Berlin, Universität Salzburg und an der Städtischen Universität Nagoya. Freiberuflicher Stadtforscher und Inhaber eines Planungsbüros (2000–2018). Senior Fellow im WeltTrends Institut für Internationale Politik. Mitglied im WeltTrends-Beirat.

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