Die Corona-Krise offenbart Fehlkonstruktion der EU
30.03.2020
Die Corona-Krise trifft die EU mit voller Wucht. Selbige ist jetzt das Epizentrum der weltweiten Pandemie. Es ist nach Finanz- und Flüchtlingskrise die dritte Krise in kurzer Zeit. Dabei zeigt sich: Aus den beiden vorhergegangenen Krisen wurde nichts gelernt.
von Gert Ewen Ungar
Als im Januar die Nachricht aus China kam, dort sei eine neuartige Infektionskrankheit aufgetreten, die eine schwere Lungenentzündung auslöst, passierte in der EU zweierlei. Man fühlte sich erstens nicht betroffen, schließlich ist China weit entfernt. Als dann in China drastische Maßnahmen wie Ausgangssperren durchgesetzt wurden, um die Ausbreitung einzudämmen, ging man zweitens zum China-Bashing über. Der autoritäre Staat, der seine Bürger unterdrückt und ihnen Freiheiten verwehrt – das wäre bei uns undenkbar, schließlich sind wir wehrhafte Demokratien, die ein gemeinsames Wertefundament teilen, für das wir einstehen und das wir verteidigen. Ganze Städte unter Quarantäne zu setzen – im freien Westen absolut undenkbar.
Nun sind wir in der Zeitrechnung gut zwei Monate weiter, und all jene Maßnahmen, die laut deutscher Presse auf einen autoritären Staat hindeuten, sind inzwischen in der EU gut geübte Praxis.
Das Zentrum der Epidemie hat sich verschoben. War es bis vor Kurzem noch China, ist es heute die EU. Nirgendwo gibt es mehr Erkrankte, nirgendwo gibt es mehr Tote, nirgendwo breitet sich das Virus so schnell aus wie in der EU. Es ist eine veritable Krise, von der die EU getroffen wird.
Die Krise trifft die EU zur Unzeit, denn die beiden vorangegangenen Krisen sind noch gar nicht richtig gelöst geschweige denn aufgearbeitet. Da ist zum einen die Flüchtlingskrise, die noch immer schwelt und für die es nach wie vor keine befriedigende Lösung gibt. An den Außengrenzen der EU sind die Menschenrechte ausgesetzt, die Lager quellen über, das Mittelmeer wird zum Massengrab. Dessen ungeachtet beharren die EU und Deutschland darauf, eine Politik fortzusetzen, die jene Flüchtlingsströme erst generiert, die man an den EU-Außengrenzen stoppen will. Da sind die Beteiligung an völkerrechtswidrigen Kriegen, Sanktionen, die sich gegen die Bevölkerung in den betroffenen Ländern richten, und Freihandelsverträge, die regionale Märkte zerstören und den Menschen ihre Lebensgrundlage nehmen. Daran wollen wir festhalten.
Die zweite, noch nicht gelöste Krise ist die Finanzkrise von 2008. Seitdem hinkt die Währungsunion gegenüber der globalen Entwicklung hinterher. Die Krise ist nicht gelöst, denn die ihr zugrunde liegende Fehlkonstruktion des Euro wurde nicht behoben. Diese besteht darin, dass mehrere Staaten eine gemeinsame Währung teilen, es aber keine Maßnahmen gibt, die auf eine Harmonisierung der unterschiedlichen Inflationsraten hinwirken. Deutschland verstößt seit Jahren gegen das eigentliche Ziel einer Inflation von knapp unter zwei Prozent. Es liegt regelmäßig deutlich darunter und verschafft sich so gegenüber den anderen Euroländern einen Wettbewerbsvorteil auf Kosten seiner europäischen Partner. Zudem begeben die Nationalstaaten immer noch nationale Anleihen. Spekulanten haben damit die Möglichkeit, gegen einzelne Länder des Euro zu spekulieren. EZB-Präsidentin Christine Lagarde hat neulich erst darauf aufmerksam gemacht, dass sie eine Bekämpfung des Auseinanderlaufens der unterschiedlichen Zinssätze der Euroländer nicht für ihre Aufgabe hält. Chapeau für so viel Kühnheit! Man könnte es aber auch Dummheit nennen.
Der Euro bringt die Euroländer in Konkurrenz, ohne dass sie darauf mit geldpolitischen Maßnahmen reagieren können. Das ist absurd, aber gelebte Realität in der EU. Versuche, diesen eklatanten Konstruktionsfehler des Euro zu beheben, sucht man vergebens. Das unsolidarische Moment in der Konstruktion soll unbedingt erhalten bleiben.
Beide Krisen haben bereits tiefe Risse in der EU entstehen lassen. Jetzt kommt die Corona-Krise hinzu. Mit ihr werden die Auflösungstendenzen der EU noch einmal verstärkt.
Italien trifft es derzeit am härtesten. Italien wurde allerdings von den beiden vorausgegangenen Krisen ebenfalls schon vergleichsweise hart getroffen. Die Insel Lampedusa vor Sizilien beispielsweise war Ziel unzähliger Flüchtlinge. Mit diesem Problem wurde Italien allein gelassen. Heute patrouilliert Frontex vor Lampedusa und sorgt dafür, dass sich die Bilder von 2015 nicht wiederholen. Am zugrunde liegenden Problem ändert es freilich nichts.
Aber auch die Finanzkrise hat in Italien besonders gewütet. Im Jahr 2011 wurde in Italien kurzerhand die Demokratie aus- und der Brüsseler Technokrat Mario Monti als Ministerpräsident eingesetzt. Er schwor unmittelbar nach der Wahl Italien auf drastische Sparmaßnahmen ein, die auch das Gesundheitssystem betrafen. Auf dieses “reformierte” Gesundheitssystem trifft nun eine Epidemie. Diese plötzliche und drastische Überprüfung neoliberalen Denkens in den Kategorien von Effizienz und Sparsamkeit an der Realität zeigt ein verheerendes Ergebnis unter anderem in Form einer erschreckend hohen Sterberate.
Zum Glück bekommt Italien jetzt Hilfe. Allerdings nicht aus der EU. China, Russland und Kuba eilen dem Land zu Hilfe. Die propagierten Erzfeinde der freiheitlichen Wertegemeinschaft zeigen die Solidarität, zu der wir nicht imstande sind. Im größten Binnenmarkt der Welt schotten sich die ihn konstituierenden Länder ab, machen ihre Grenzen dicht, verfolgen unterschiedlichste Strategien der Seuchenbekämpfung und stehlen sich obendrein noch gegenseitig die Schutzausrüstung und Atemmasken. So haben allem Anschein nach Polen und Tschechien Lieferungen von Hilfsgütern aus China konfisziert, die für Italien bestimmt waren. Aber auch zwischen Deutschland und der Schweiz gab es bereits Verwerfungen, nachdem Deutschland Container mit Atemmasken und Schutzkleidung, die die Schweiz in China bestellt hatte, vom Anlieferhafen nicht weiter passieren ließ. Inzwischen hat Deutschland eingelenkt, aber es bedurfte der Einbestellung des deutschen Botschafters, nahm also das Ausmaß einer veritablen diplomatischen Krise an – unter Freunden versteht sich, die gemeinsame Werte teilen.
So zeigt sich auch an dieser Krise, wie wenig geeint die EU tatsächlich ist. Sie ist ein Schönwetter-Staatenbund, der zur Krisenbewältigung nichts taugt, weil seinem Fundament zentrale Werte wie Solidarität und Gemeinschaftssinn völlig fehlen. In alle Verträge dagegen hineingeschrieben wurde das Prinzip der gegenseitigen Konkurrenz. Hineingeschrieben wurde im Gegenteil, dass im Fall einer Krise jeder auf sich selbst gestellt bleibt. No Bailout. Das rächt sich jetzt. Auch wenn in pathetischen Reden und wohlfeilen Fernsehansprachen die Gemeinsamkeit und die Solidarität beschworen wird, all das hilft nichts, denn es gibt diese Basis in den die EU konstituierenden Verträgen nicht – vielfach übrigens auf deutsches Geheiß.
So kommt Hilfe nun vom “Erzfeind”. Von denen, die unsere Werte nicht teilen, von den Feinden der Demokratie und der liberalen, offenen Gesellschaft. Die zeigen sich solidarisch und beweisen damit, dass Solidarität ein Wert ist, den wir tatsächlich nicht teilen. Es ist zutiefst beschämend.
Noch beschämender aber ist, dass die deutsche Propagandamaschine auf Hochtouren läuft und keinen Konjunktiv auslässt, um Russland doch noch in den Dreck zu ziehen. Kann es sein, dass die Fallzahlen dort so niedrig sind? Könnte es nicht sein, dass sie eigentlich viel höher sind, dass die faktischen Zahlen aber unterdrückt werden? Dass das Regime falschspielt?
Es könnte allerdings auch einfach daran liegen, dass Russland viel früher reagiert hat. Während man sich hier in Sicherheit wog und an seine Überlegenheit glaubte, hat Russland die Grenzen zu China geschlossen. Schon vor Wochen trugen beispielsweise an den russischen Flughäfen alle, die mit zahlreichen Menschen zu tun hatten, Masken und Einmalhandschuhe. Zu dieser Zeit fanden sich auf deutschen Flughäfen Aushänge, die regelmäßiges Händewaschen empfahlen. Es mag einem deutschen Qualitätsjournalisten völlig abwegig erscheinen, aber man könnte eventuell den Gedanken an sich heranlassen, dass das russische Krisenmanagement einfach besser war. Natürlich werden auch da die Fallzahlen zunehmen. Aber die Voraussetzungen für eine flache Kurve wurden frühzeitig geschaffen. Und so hat Russland jetzt noch die Ressourcen zur Verfügung, anderen Ländern solidarisch zur Seite zu stehen. Es wird spannend sein, herauszufinden, wann diese Hilfe dem EU-weiten, kollektiven Vergessen anheimgegeben wird.
COVID-19 offenbart das wahre Gesicht der USA
Normale US-Amerikaner können sich nicht mehr mit Sport und Völlerei betäuben. Stattdessen können sie die bösartige und feige herrschende Klasse, die sie ausbeutet und verachtet, klar erkennen. Wenn sie nur ihre Augen für die Realität öffnen würden.
von Michael McCaffrey
Jeder, der Augen hat, um zu sehen, kann klar erkennen, dass es sich bei den Vereinigten Staaten von Amerika um ein verwirrtes Imperium im steilen Niedergang handelt, das fest in seiner Inszenierung von “Brot und Spiele” verwurzelt ist. Dies ist durch COVID-19 deutlich in den Fokus gerückt. Nachdem es jetzt an Brot mangelt, da die Regale der Supermärkte kahl sind und die Ablenkung durch den Sportzirkus auf unbestimmte Zeit aus der Kultur entfernt wurde, bleibt den US-Amerikanern nur noch wenig, um sie von der kalten, harten Realität abzulenken.
Da es keine Schlägereien oder Ballspiele zu beobachten gibt und die Furcht vor potenziellem Hunger an ihren aufgeblähten Bäuchen und Gehirnen nagt, und da sie durch die soziale Distanzierung isoliert sind und nur ihre Gedanken zur Gesellschaft haben, wird es für die US-Amerikaner jetzt immer schwieriger, die Wahrheit über ihr Land zu ignorieren, die ihnen ins Gesicht starrt – über sein bedauerlich korruptes Medien-, Finanz-, Regierungs-, Bildungs- und Gesundheitssystem.
Wie ein altes Sprichwort sagt: Krise offenbart Charakter. Und die Corona-Virus-Ansteckung ist eine Krise von epischen Ausmaßen, die zeigt, dass die Vereinigten Staaten von Amerika völlig ohne erlösenden Charakter sind.
Wären die USA ein normales, gesundes und vernünftiges Land, so wäre dies eine große Chance für einen Wandel – leider sind sie das nicht. Die Vereinigten Staaten sind eine wahnsinnige, ungesunde und irrationale Nation, und deshalb ist jede echte Veränderung undenkbar.
Diese Krise hat zum Beispiel wieder einmal das Kartenhaus der Schall-und-Rauch-Wirtschaft der USA offenbart. Die US-amerikanische Wirtschaft wurde lange Zeit durch die Finanzialisierung manipuliert, bei der Aktienrückkäufe und buchhalterische Spielereien den Aktienmarkt aufblähen, aber für die Massen nichts Substantielles schaffen, außer der Illusion von Wohlstand. Hier in den USA hat die Wirtschaft schon lange aufgehört, für normale Menschen zu arbeiten, was sich daran zeigt, dass trotz der steigenden Produktivität die Löhne in den letzten vierzig Jahren stagnierten, während die Lebenshaltungskosten eskalierten.
Der “American Way” hat sich in eine bizarre Verkehrte-Robin-Hood-Welt verwandelt, in der die Reichen die Armen bestehlen und ihre Beute für sich selbst behalten. Der Beweis dafür ist, dass diese COVID-19-Krise zweifellos – genau wie der Zusammenbruch von 2008 – als ein Weg für die böswilligen Narzissten in Washington, der Wall Street und in den Vorstandsetagen der Unternehmen genutzt werden wird, um sicherzustellen, dass all ihre Verluste sozialisiert und ihre Gewinne privatisiert werden. Kasinos, Kreuzfahrtgesellschaften, Fluggesellschaften, Hotels und andere stehen bereits Schlange – einschließlich natürlich der Schurken an der Wall Street – für ihre vom Steuerzahler finanzierten Almosen.
Die Rettung der US-amerikanischen Arbeiter- und Mittelschicht ist für die herrschende Elite jedoch eine absolute Schnapsidee. Die Oberschicht wird mit leeren Phrasen wie der köstlich ironischen “moralischen Gefahr” (“Moral Hazard”) um sich werfen, um ihre Argumente vorzubringen, die ziemlich stichhaltig sind, wenn man bedenkt, dass die Gangster an der Wall Street und ihre Kumpane auf dem Capitol Hill derart moralisch beraubt sind, dass sie eine Gefahr für die ganze Menschheit darstellen.
Das Corona-Virus ist nicht annähernd so tödlich wie die krebsartige Korruption, die in unserer oligarchischen Korporatokratie endemisch ist. Einen Beweis dafür findet man in Nancy Pelosis “Krankengeld”-Gesetz, das Unternehmen mit mehr als 500 Beschäftigten von der Zahlung von Krankengeld befreit – und die eine ganze Reihe von Sonderregelungen für Unternehmen unterhalb dieser Schwelle vorsieht, sodass rund 20 Prozent der Arbeitnehmer keinen Anspruch auf Leistungen haben.
Diese Korruption der Eliten ist überparteilich, wie zwei republikanische Senatoren, Richard Burr und Kelly Loeffler (verheiratet mit Jeffrey Sprecher, dem Vorsitzenden der New Yorker Börse), belegen. Sie nutzten angeblich Ende Januar und Anfang Februar geheime Briefings über die bevorstehende Schwere des Corona-Virus aus, um einige raffinierte Insider-Handelsmanöver durchzuführen, damit sie sich abkassieren konnten, bevor die Öffentlichkeit überhaupt eine Ahnung hatte, was auf sie zukam. Beide bestreiten natürlich jede Unanständigkeit.
Die ungeheuerliche wirtschaftliche Kluft in den USA wird durch die COVID-19-Debatte über die Schließung von Schulen inmitten der Krise noch deutlicher. Der Grund dafür, dass diese Debatte weit über die rationale Zeit zum Handeln hinausging, ist, dass unser Bildungssystem kein System des Lernens ist, sondern eher ein glorifizierter Kindergarten- und Lebensmittelzustelldienst.
Proletarische Eltern sind nicht mehr in der Lage, zu Hause zu bleiben und ihre Kinder zu erziehen, weil es heute zwei Eltern braucht, die in der Regel mehrere Jobs haben, um weniger zu verdienen als ein berufstätiger Elternteil vor vierzig Jahren.
Im gesamten Schulbezirk von Los Angeles liegen 70 Prozent aller Schüler unter der Armutsgrenze und sind für den Großteil ihrer Mahlzeiten auf das Schulsystem angewiesen. Im reichsten Land der Welt ist das eine absolute Schande. Das Virus der strukturellen wirtschaftlichen Ungleichheit ist ein viel langfristigeres und tödlicheres Problem als das Corona-Virus, und die herrschende Klasse und ihre schamlosen Lakaien in der Presse haben kein Interesse daran, sich jemals ehrlich damit auseinanderzusetzen oder es anzuerkennen.
Die Konzern-Handlanger im Kongress und im Weißen Haus (beider Parteien) informieren die US-Amerikaner auch fröhlich darüber, dass eine universelle Gesundheitsfürsorge für Alleinstehende, die jede andere Industrienation der Welt bereits hat, ein Hirngespinst und eine Unmöglichkeit sei.
Sie sagen uns, sie könnten niemals für etwas so Dekadentes und Luxuriöses wie das Gesundheitswesen bezahlen. Doch dann ziehen sie auf magische Weise 1,5 Billionen US-Dollar aus ihren vergoldeten Hintern heraus, um einen selbstverschuldeten Zusammenbruch abzuwenden. Es ist erstaunlich, wie die Herren der Finanzen auf wundersame Weise Geld auftauchen lassen können, um Dinge zu erledigen, wenn es um ihren exorbitanten Reichtum geht und nicht um die Gesundheit und das Wohlergehen der normalen US-Amerikaner.
Das Corona-Virus ist eine Krise, die die hässliche Wahrheit über die Vereinigten Staaten von Amerika und den bösartigen Charakter seiner herrschenden Klasse aufdeckt. Die Krise wird sich noch verschlimmern, bevor sie sich bessert, aber sie wird schließlich besser werden. Die USA selbst hingegen werden nur noch viel schlimmer werden, ohne Hoffnung, dass es jemals besser wird.