Freitag, 24. Juli 2020

Chinesische Positionen zur gegenwärtigen strategischen Lage und zur Rüstungskontrolle

Bernd Biedermann

Eine öffentliche Diskussion zu diesem Thema gibt es in China nicht. Wer also wissen will, wie man in China die strategische Stabilität einschätzt und wie man zu einer Rüstungskontrolle steht, der ist gut beraten, wenn er die Weißbücher Chinas zur nationalen Verteidigung aus den Jahren 2015 und 2019 aufmerksam liest.
In beiden Dokumenten wird der defensive Charakter der Militärstrategie Chinas betont. Interessant dabei ist, dass das Weißbuch von 2015 im Wesentlichen von der militärischen Führung erarbeitet wurde, während es sich bei dem Weißbuch von 2019 um ein Dokument handelt, das der Staatsrat verabschiedet hat und das mit dem Titel „Die Landesverteidigung Chinas im neuen Zeitalter“veröffentlicht wurde.
Beide Dokumente weisen eine beeindruckende Kontinuität in allen relevanten Fragen auf. Die chinesischen Positionen zur gegenwärtigen strategischen Lage und zur Rüstungskontrolle werden darin deutlich und unmissverständlich dargelegt. Zur Einschätzung der strategischen Lage heißt es im Weißbuch von 2019 wörtlich:
- Die internationale strategische Situation erfährt gegenwärtig grundlegende Veränderungen. Die Welt ist im Umbruch. In dieser multipolaren Welt sind Frieden, Entwicklung und Kooperation unumkehrbare Trends der Zeit.
- Zugleich hat sich der strategische Wettlauf verschärft. Die USA haben ihre Strategie geändert und führen eine unilaterale Politik durch, die erneut einen intensiven Wettbewerb zwischen den Hauptländern ausgelöst hat. Sie erhöhen ihre Verteidigungsausgaben, stärken ihr Kernwaffenpotenzial und bauen ein länderübergreifendes Stützpunkt- und Raketenabwehrsystem auf.
- Die NATO hat sich territorial erweitert und stationiert weitere Truppen in Zentral- und Osteuropa bei gleichzeitiger Durchführung von Übungen und Manövern aller Teilstreitkräfte.
Russland verstärkt sein nukleares und konventionelles Potenzial.
- Die Europäische Union forciert ihre Anstrengungen zum Aufbau einer eigenen militärischen Komponente.
- Die Nichtweiterverbreitung von Massenvernichtungsmitteln bleibt problematisch. Extremismus und Terrorismus breiten sich aus.
 - Die Sicherheitslage in der asiatisch-pazifischen Region und im Südchinesischen Meer ist generell stabil. Die betreffenden Länder versuchen, bestehende Risiken und Differenzen auszugleichen.
China, das bekanntlich weder an den INF-Vertrag gebunden war, noch an den START-1 Verhandlungen teilnahm, hat jedoch eine klare strategische Richtlinie der aktiven Verteidigung für das neue Zeitalter formuliert.
Unter „aktiver Verteidigung“ wird die Einheit von strategischer und operativ-taktischer Verteidigung verstanden.
Diese Richtlinie, die quasi an die Stelle der Volkskriegstheorie getreten ist, umfasst die konsequente Verteidigung des chinesischen Territoriums, des Luftraums sowie entscheidende Antwortschläge und Operationen im Zusammenwirken aller Teilstreitkräfte. Wörtlich heißt es im Weißbuch:
„Unser Standpunkt ist eindeutig: Wir werden niemanden angreifen, aber wenn wir angegriffen werden, werden wir entschieden zurückschlagen.“
So wie bisher immer, erklärt China erneut, dass es zu keiner Zeit und unter keinen Umständen als Erster Kernwaffen einsetzen und auch den Nichtnuklear-Staaten nicht damit drohen wird.
Unabhängig davon werden die eigenen Nuklearkräfte als ein Pfeiler der nationalen Souveränität und Sicherheit bezeichnet. Nach chinesischer Auffassung bleibt die Nichtweiterverbreitung von Massenvernichtungsmitteln problematisch.
China tritt unverändert für ein komplettes Verbot und die Zerstörung der Kernwaffen ein. Es wird sich, so wie bisher, keinesfalls am atomaren Wettrüsten beteiligen.
Wie während des Kalten Krieges will man seine Kernwaffen auf einem minimalen Niveau halten. Dem liegt der Gedanke zu Grunde, dass ein Land mit einem Kernwaffenpotenzial, das jedem potenziellen Gegner irreparablen Schaden zufügen kann, militär-strategisch gesehen eine Großmacht ist.
Offensichtlich ist es nach Meinung der chinesischen Führung ausreichend, nur einige Hundert Kernwaffen vorzuhalten und sich nicht auf tausende zu konzentrieren.
Von außerordentlicher Bedeutung sind nach Auffassung der politischen und militärischen Führung in Beijing Chinas maritime Rechte, die ebenso gesichert werden müssen, wie seine Interessen in Übersee, im Weltraum und im Cyberspace. Dazu müsse die traditionelle Auffassung, das Land sei wichtiger als die See, überwunden werden.
Schon im 15. Jahrhundert hat China das gesamte Südchinesische Meer quasi als sein Hoheitsgewässer betrachtet.
Die Inseln im Süd- und OstChinesischen Meer sind nach aktueller chinesischer Auffassung unveräußerliches chinesisches Territorium.
Dennoch sollte die chinesische Führung darauf achten, dass sie wegen ein paar Felsen im Meer nicht das gewachsene Ansehen des Landes aufs Spiel setzt.
Unbedingt zu beachten ist, dass trotz des Aufbaus der neuen Seidenstraße noch auf lange Zeit mindestens 80 Prozent aller Ex- und Importe des Landes auf dem Seeweg transportiert werden
Die asiatisch-pazifische Region – auch Westpazifik genannt – ist von großer strategischer Bedeutung. Sie umfasst den Raum von der Behring-Straße im Norden bis zur Spitze des indischen Subkontinents im Süden. In dieser Region leben 60 Prozent der Weltbevölkerung, die jetzt schon die Hälfte der Weltproduktion erbringt.
Anrainerstaaten sind Russland, Nord- und Südkorea, Japan, China, Indochina mit Laos, Vietnam, Thailand und Kambodscha, die Philippinen, Indonesien, Malaysia, Myanmar, Bangladesch und Indien.
Da es in dem China vorgelagerten Seegebiet einige Meerengen gibt (Tsushima-Straße zwischen Südkorea und Japan, die Straße von Taiwan und die Straße von Malakka), ist China darauf angewiesen, dass diese Seewege immer offenbleiben.
Dem steht die Pazifik-Doktrin der USA entgegen. Deshalb muss China in Übereinstimmung mit seinen Sicherheits- und Entwicklungserfordernissen eine moderne maritime Militärstruktur entwickeln. Wörtlich heißt es: „China muss die strategischen Bedingungen sicherstellen, um sich selbst zu einer Seemacht zu entwickeln.“ Wie ernst man diese Forderung nehmen muss, wird daran deutlich, dass die Marine in den letzten zwei bis drei Jahren jeweils ca. 35 größere Einheiten wie Zerstörer, Fregatten, Korvetten, U-Boote sowie Landungs- und Spezialschiffe bekommen hat. Im Gegensatz zu den anderen Teilstreitkräften wurde der Personalbestand der Marine nicht verringert, sondern erhöht. Um Chinas Überseeinteressen zu sichern, werden entsprechende Kontingente gebildet und logistische Einrichtungen geschaffen.
2017 wurde eine chinesische Basis in Djibouti in Dienst gestellt. Sie verfügt über die Ausrüstung für vier Einsatzgruppen. China hat im Laufe der letzten Jahre bei der Lösung regionaler Streitfragen eine konstruktive Rolle gespielt, so u.a. in der Koreafrage, bei der Nuklearfrage des Irans und in Syrien.
Die chinesische Führung plädiert für die strikte Einhaltung der UN-Charta.
Als ständiges Mitglied des UNSicherheitsrates billigt China nicht nur die Rolle der UNO bei der Gestaltung der internationalen Beziehungen, das Land nimmt an der internationalen Rüstungskontrolle, der Abrüstung und der Nichtweiterverbreitung von Massenvernichtungsmitteln aktiv teil.
Zweifellos haben der Verlauf und das Ende der militärischen Strafaktion gegen Vietnam im Frühjahr 1979 dazu beigetragen, bei Problemen mit anderen Ländern nicht weiter auf eine militärische Lösung zu setzen.
Keinen Zweifel lässt man in Beijing allerdings daran aufkommen, dass die Wiedervereinigung mit Taiwan auf lange Sicht angestrebt wird. Wörtlich heißt es im Weißbuch von 2019: „Es liegt im fundamentalen Interesse der Nation, die Taiwan-Frage zu lösen und die Wiedervereinigung zu vollziehen. China muss und wird wiedervereinigt werden!“
Eine militärische Lösung scheint dabei nicht in Betracht zu kommen. Die chinesische Führung plädiert für den Aufbau eines neuen Modells der Sicherheitspartnerschaft und des gegenseitigen Vertrauens. Dafür werden konstruktive Beziehungen zu anderen Staaten aufgebaut.
Weltweit sind jetzt in 130 diplomatischen Missionen Chinas Militärattachés akkreditiert, während 116 Staaten Militärattaché-Büros in China haben.
Die militärischen Beziehungen mit der Russischen Föderation entwickeln sich weiter auf hohem Niveau. Sie sind zu einer strategischen Partnerschaft ersten Ranges geworden und spielen eine wichtige Rolle bei der Erhaltung der strategischen Stabilität.
Die Beziehungen zu den USA sollen nach chinesischer Auffassung in Übereinstimmung mit den Prinzipien einer konfliktfreien und konfrontationsfreien Kooperation gestaltet werden. 4
Solange der  US-Dollar die Weltwährung Nr. 1 ist, können die USA allerdings nahezu unbegrenzt Kredite erhalten. China würde diesen Zustand lieber heute als morgen ändern, bliebe dann aber auf den vielen Billionen Schulden der Amerikaner sitzen und würde zudem den amerikanischen Markt verlieren.
Bis zur Ablösung des Dollars als Weltwährung ist es aber noch ein weiter Weg. Die Volksbefreiungsarmee hält enge Kontakte zu den Militärs der Nachbarländer. Zugleich entwickelt China militärische Beziehungen zu Europa und Afrika. Fazit: Wenn China seine gesellschaftliche, ökonomische, wissenschaftliche und militärische Entwicklung so wie bisher fortsetzt, ist es nur noch eine Frage der Zeit, wann das Land die USA als Weltmacht Nr. 1 ablösen wird
http://welttrends.de/res/uploads/IIP-Papiere-27.pdf