Freitag, 20. November 2020

"Gericht der Völker": Vor 75 Jahren begann das Nürnberger Tribunal

 

"Gericht der Völker": Vor 75 Jahren begann das Nürnberger Tribunal
Die Prozesse des Internationalen Militärgerichtshofs in Nürnberg waren in der Geschichte der Justiz genauso einmalig wie die Verbrechen, die diese Prozesse aufzuklären und zu bestrafen hatten. Heute jährt sich der Beginn des Nürnberger Tribunals zum 75. Mal.

Am Freitag jährt sich der 75. Jahrestag der Nürnberger Prozesse gegen Deutschlands Hauptkriegsverbrecher. Der Internationale Militärgerichtshof in Nürnberg wurde auf Initiative der UdSSR, der USA, Großbritanniens und Frankreichs eingerichtet, um die Verbrechen der Führung Nazideutschlands zu untersuchen. Nach fast einjähriger Verhandlung fällte das Gericht zwölf Todesurteile und befand auch den SD (Sicherheitsdienst), die Gestapo, die NSDAP und die SS (Schutzstaffel) für verbrecherisch. In den folgenden zwöl Nürnberger Prozessen, die von 1946 bis 1949 stattfanden, wurden Nazi-Führer in kleinerem Umfang verurteilt.

Friedrich Paulus, im Januar 1942 zum General befördert, als Oberbefehlshaber der 6. Armee.

Ein vergleichbares Vorhaben war schon einmal nach dem Ersten Weltkrieg geplant worden. Der Versailler Vertrag sah vor, Wilhelm II. von Hohenzollern, den vormaligen deutschen Kaiser, für die (gewiss nicht alleinige) Anzettelung eines Aggressionskrieges zur Rechenschaft zu ziehen. Auch die Heeresführer seines Reiches sollten "wegen eines Verstoßes gegen die Gesetze und Gebräuche des Krieges" anzuklagen seien. Doch der Prozess blieb aus. Laut dem Historiker Kurt Pätzold dominierte schon damals das Grundinteresse der Siegermächte, das Reich in die sich formierende neue Front antisowjetischer Politik einzubinden.

Dies durfte sich nicht mehr wiederholen. Seit dem Tag des deutschen Überfalls, dem 22. Juni 1941, war die Sowjetunion, auf deren europäischem Territorium dann der Großteil der Kampfhandlungen und Verbrechen des Zweites Weltkrieges stattfanden, bei der Vorbereitung des Nürnberger Prozesse tonangebend. (Dabei darf man jedoch das Leid der Chinesen und anderer asiatischer Völker nicht vergessen; daher die Beschränkung auf Europa.) Bereits am 22. Juni 1941 erklärte die Regierung in Moskau die Notwendigkeit, die Nazispitze für die Entfesselung des Krieges strafrechtlich zur Verantwortung zu ziehen.

Die Sowjetunion brachte ihren Wunsch, die Nazis vor Gericht zu bringen, in Noten zum Ausdruck, die an alle Länder geschickt wurden, mit denen sie diplomatische Beziehungen unterhielt: "Über die ungeheuerlichen Gräueltaten der deutschen Behörden an sowjetischen Kriegsgefangenen" (25. November 1941), "Über die allgegenwärtige Plünderung, die Verwüstung der Bevölkerung und die ungeheuerlichen Gräueltaten der deutschen Behörden in den eroberten sowjetischen Gebieten" (6. Januar 1942) und mehrere weitere.

Später ging es nicht nur um die Gebiete der Sowjetunion. Am 14. Oktober 1942 erklärte die sowjetische Regierung die Verantwortung der Hitler-Invasoren und ihrer Komplizen für die Gräueltaten, die sie in den besetzten Ländern Europas begangen hatten. Es wurde betont, dass es notwendig sei, unverzüglich ein internationales Sondertribunal anzurufen und alle deutschen Führer, die sich während des Krieges in den Händen der Behörden der Staaten der Antihitlerkoalition befanden, mit dem vollen Ausmaß der Strafgesetze zu bestrafen.

Am 30. Oktober 1943 verabschiedeten die Außenminister der drei Hauptmächte der Koalition in Moskau eine "Erklärung über deutsche Grausamkeiten im besetzten Europa", die jedoch die Frage offenließ, wie mit dem höchstgestellten Personal des Naziregimes verfahren werden solle. Mit den Prozessen gegen deutsche Kriegsverbrecher und deren einheimische Kollaborateure, die 1943 in befreiten Städten der Sowjetunion (Krasnodar, Charkow) stattgefunden hatten, machte die Sowjetunion praktisch klar, welchen Weg sie generell bevorzugte.

Putin ruft 75 Jahre nach Kriegsende angesichts der globalen Krise zu Einheit und Zusammenarbeit auf (Archivbild)

Wie Pätzold in seinem Artikel "Der lange Weg nach Nürnberg" ausführt, wurde Hitler und seinen Feldmarschällen spätestens nach der Veröffentlichung der Moskauer Erklärung und durch Listen der zu Belangenden bewusst, "wenn sie sich das nicht schon vorher ausgerechnet hatten, daß sie anders als ihre Vorgänger nach 1918 der Strafverfolgung nicht entgehen würden".

Goebbels kleidete das in seinem Tagebuch in die Formulierung, es sei für die rücksichtslos totale Weiterführung des Krieges doch gut, wenn man wisse, daß alle Brücken hinter einem abgebrochen seien. Er wie seinesgleichen befanden sich keineswegs in einem Zustand fehlenden Unrechtsbewußtseins. Hitler hatte den Generalen schon vor dem Einfall in Polen unumwunden gesagt, der Sieger werde nach Recht oder Unrecht nicht gefragt werden.

Bereits im Oktober 1942 hatte die in London angesiedelte United Nations War Crimes Commission angefangen, Informationen, Dokumente und weitere Zeugnisse zu sammeln, die der Vorbereitung von Anklageschriften dienen konnten. Ihr gehörten Vertreter von 17 Staaten an. Aus der Sicht der Kommission war es unmöglich, die künftige juristische Aufarbeitung den Deutschen selbst zu überlassen:

Die Vereinten Nationen dürfen nicht noch einmal darauf vertrauen, daß die Deutschen ihren Kriegsverbrechern gegenüber Gerechtigkeit walten lassen. In ihren Augen sind das Helden.

Auf dem Gipfeltreffen in Jalta ("Krimkonferenz", 4. bis 11. Februar 1945) einigten sich die Regierungschefs der Sowjetunion, der USA und Großbritanniens schließlich darauf, "alle Kriegsverbrecher vor Gericht zu bringen und einer schnellen Bestrafung zuzuführen".

"Gericht der Völker": Vor 75 Jahren begann das Nürnberger Tribunal
Die Ankläger der vier Siegermächte beim Nürnberger Prozess

Am 18. Oktober 1945 traf sich in Berlin ein Kollegium von Juristen, von ihren jeweiligen Regierungen ernannte Mitglieder des Militärgerichtshofes, der auf Beschluss der Siegermächte des Zweiten Weltkrieges gebildet worden war. Von dem internationalen Tribunal sollten führende Personen des faschistischen Deutschen Reiches, Zivilisten und Militärs, angeklagt und, wenn schuldig befunden, bestraft werden. Eine vergleichbare Institution hatte es bisher nie gegeben.

Der Prozess fand jedoch nicht in Berlin, wie die Sowjetführung es anfangs wollte, sondern in Nürnberg statt. Nürnbergs Bedeutung hatte zwar als Stadt der NSDAP-Reichsparteitage und Verkündungsort der Nürnberger Gesetze große symbolische Bedeutung. Dies war jedoch für die Ortswahl nicht ausschlaggebend. Für Nürnberg sprach vor allem die Tatsache, dass der Justizpalast weitgehend unbeschädigt geblieben war und ein großes Gefängnis, das Zellengefängnis Nürnberg, unmittelbar angrenzte. Auch Unterbringungsmöglichkeit für zahlreichen Zeugen gab es.

"Gericht der Völker": Vor 75 Jahren begann das Nürnberger Tribunal
21 Plätze besetzt: die Anklagebank im Nürnberger Prozess

Insgesamt wurden von den in Nürnberg 24 angeklagten Personen schließlich zwölf zum Tode durch den Strang verurteilt, darunter NS-Größen wie Martin Bormann (in Abwesenheit), Hermann Göring (beging Selbstmord), Joachim von Ribbentropp und Alfred Rosenberg sowie die Heeresführer Wilhelm Keitel und Alfred Jodl. Drei Angeklagte wurden freigesprochen, die restlichen wurden zu Haftstrafen verurteilt. Der damals 22-jährige Markus Wolf, der am Nürnberger Prozess vom ersten Tag am 20. Oktober bis zur Urteilsverkündung am 30. September und 1. Oktober 1946 als Sonderberichterstatter des Berliner Rundfunks teilnahm, beschrieb die angeklagten Verbrecher so:

Es war fast enttäuschend zu sehen, welch unscheinbare, in sich zusammengesunkene, um das verwirkte Leben bangende Figuren von der Hitlerherrlichkeit übriggeblieben waren, die für die Ideen und Taten der Nazipartei und des Hitlerstaates einstehen sollten. 

In Nürnberg wurden aber nicht nur Personen verurteilt, sondern auch die Ideologie, die ihre Verbrechen begründete – der Nazismus. Die Bedeutung des Nürnberger Tribunals für die internationale Justiz und das universelle Menschenrecht ist schwer zu überschätzen. Es war keineswegs (nur) Siegerjustiz. Vielmehr war der Nürnberger Prozess, wie der Name des sowjetischen Dokumentarfilms des Jahres 1946, ein "Gericht der Völker".

"Gericht der Völker": Vor 75 Jahren begann das Nürnberger Tribunal
Koffer der im Vernichtungslager Auschwitz ermordeten Juden mit Markierungen aus allen europäischen Ländern. In Auschwitz wurden ca. 1,4 Millionen Menschen ermordet, darunter 1,1 Millionen Juden.

"Sieg über die Unmenschlichkeit"

Wie schätzt man die Bedeutung des Nürnberger Tribunals in Deutschland aus heutiger Sicht ein? Die Materialien des Nürnberger Tribunals spielten "eine unschätzbare Rolle", um die Geschichte des nationalsozialistischen Deutschlands in den Jahren 1967/1968 während der sogenannten Studentenproteste neu zu überdenken. Das sagte Helgard Kramer, Nazismus-Forscherin und Professorin für Politikwissenschaft an der Freien Universität Berlin, russischen Medien. Sie bemerkte, dass es in Deutschland davor nicht üblich gewesen sei, von "undenkbaren Verbrechen der Nazis" zu sprechen, "Kriminelle behaupteten, unschuldig zu sein".

Russlands Außenminister Sergei Lawrow legt zum Gedenken einen Kranz am 'Grabmal des Unbekannten Soldaten' in Moskau nieder.

Kramer hebt die Tatsache hervor, dass sich die Deutschen mit ihrer eigenen Vergangenheit nicht allein auseinandersetzten mussten, sondern dass die juristische und moralische Aufarbeitung international verlief.

Der Nürnberger Prozess brachte diesen Prozess auf eine internationale Ebene, was dazu führte, dass die Nazis in vollem Umfang bestraft wurden, zumindest moralisch. Dies war der Ausgangspunkt für die Bemühungen, für den Frieden zu kämpfen, für die internationale Kontrolle über die Erhaltung des Friedens. Obwohl viele Ex-Nazis nicht rechtlich verurteilt wurden, aber die Tatsache der (Nürnberger Prozesse), die Diskussion über die Verbrechen des Nationalsozialismus auf der Ebene der Weltgemeinschaft – es war äußerst wichtig und ist immer noch die Grundlage für die internationale Zusammenarbeit in Bezug auf Länder, in denen die Rechte der Bürger verletzt werden", sagte die Wissenschaftlerin.

Der deutsche Außenminister Heiko Maas nannte das Tribunal einen "Triumph der Zivilisation über die Unmenschlichkeit". "Vor genau 75 Jahren begann der Nürnberger Prozess. Hier saßen Männer vor Gericht, die für die abscheulichsten Verbrechen der Geschichte verantwortlich waren. Und dennoch gewährten die Richter ihnen ein faires Verfahren. Ein Triumph der Zivilisation über die Unmenschlichkeit", schrieb Maas auf Twitter.

Umschreibung der Geschichte? Umstrittene Rede in Vilnius 

In Russland, das sich als Erbe der Sowjetunion sieht, die mit Abstand die zahlreichsten Opfer im Kampf gegen den Nazismus zu beklagen hatte, wird derzeit in großen Umfang an die Nürnberger Prozesse erinnert. Die Nachrichtenagentur RIA Nowosti startete vor Kurzem das multimediale historische Projekt "Nürnberg. Anfang des Friedens". Doch der Jahrestag wurde von einer erneuten geschichtspolitischen Auseinandersetzung mit der Bundesrepublik Deutschland überschattet.

Anlass war die Rede des deutschen Botschafters in Litauen Matthias Sonn, die er bei der Eröffnungszeremonie des Denkmals für den jüdischen Wasserträger am 19. Oktober 2020 in Vilnius hielt. Seinen Worten zufolge bestand der Zweck der Befreiung Deutschlands vom Nationalsozialismus durch die Rote Armee darin, "die repressive Herrschaft von Stalin" zu etablieren.

Mehr zum Thema - Moskau: Erklärung des deutschen Botschafters zum Zweiten Weltkrieg ist grobe Provokation

Was der deutsche Diplomat vor einem Monat bei einer erinnerungspolitischen Veranstaltung gesagt hatte, wurde offenbar erst vor Kurzem bekannt. Die Äußerung rief in Moskau Empörung hervor. Zunächst meldete sich die russische Botschaft in Litauen. Man hätte in Deutschland 1945 "keine andere Regierung" bilden müssen, wenn der deutsche Faschismus 1941 nicht die Sowjetunion angegriffen und davor nicht halb Europa erobert hätte, schrieb sie in einer Stellungnahme.

Die Sprecherin des Außenministeriums Maria Sacharowa nannte in einer ausführlichen Stellungnahme am 19. November die Worte des Botschafters "eine Provokation" und bezeichnete sie als "historische Amnesie". Russische Medien widmeten dem Vorfall bereits mehrere Artikel. "Deutschland beginnt die Lehren aus dem Zweiten Weltkrieg zu vergessen", schreibt die Internetzeitung Wzglyad und führt Meinungen mehrerer Wissenschaftler und Diplomaten an. Dies sei verwunderlich, weil die Bundesrepublik Deutschland immer die Tatsache anerkannte, dass Deutschland den Zweiten Weltkrieg entfesselt habe. "In Nürnberg wurde bewiesen, dass Deutschland den Krieg vor langer Hand vorbereitete, dass es den 'Barbarossa-Plan' für den Angriff auf unser Land ausarbeitete." Einige Experten wiesen darauf hin, dass die Rede in Litauen gehalten wurde, einem Land, in dem der Geschichtsrevisionismus weit fortgeschritten sei. 

Symbolbild - Hinrichtung gefangener sowjetischer Partisanen, Januar 1943

Inwieweit allerdings die Worte des Botschafters das meinten, was ihm unterstellt wurde, ließ sich bis vor Kurzem schwer prüfen. Erst am 20. November veröffentlichte die deutsche Botschaft in Litauen den englischen Text der umstrittenen Rede. Die Botschaft nahm bei der Veröffentlichung keinen Bezug auf die Kritik und nannte die Rede "ausgezeichnet". Auch gibt es bislang keine offizielle Stellungnahme des deutschen Außenministeriums dazu. 

Sonn nannte den Angriff Nazideutschlands auf die Sowjetunion "todbringend" und verurteilte ihn aufs Schärfste. Inmitten seiner Rede sagte er:

Rund 95 Prozent der litauischen Juden wurden getötet, während mein Land Litauen beherrschte. Schließlich eroberte die Rote Armee 1945 Berlin und befreite uns Deutsche von Hitler – nur um seine Herrschaft durch Stalins Unterdrückung (engl. "repression") zu ersetzen. Litauens historisches Museum, das sich im ehemaligen Gestapo- und KGB-Hauptquartier am Gedimino Prospectas befindet, erzählt diese Geschichte. Seine Internetadresse ist 'genocide.lt'. Deshalb wird eine solche transzendentale Skulptur benötigt.

Die Nichterwähnung der Rolle der litauischen Hitler-Kollaborateuere bei der Vernichtung von 200.000 litauischen Juden und die deutlich zum Ausdruck gebrachte Gleichsetzung Hitlerdeutschlands und der Sowjetunion war offenbar das, was die russische Seite an diesem Text so stört.

Mehr zum Thema - "Perversion der Geschichte": NATO-Film verherrlicht Nazi-Kollaborateure im Baltikum


Torpedieren der Prinzipien von Nürnberg ist ein Angriff auf die globale Sicherheit

Wladimir Putin: Torpedieren der Prinzipien von Nürnberg ist ein Angriff auf die globale Sicherheit
Richterbank des Nürnberger Internationalen Militärgerichtshofs (IMT), die im September 1946 während des Kriegsverbrecherprozesses gegen Nazi-Führer im Zweiten Weltkrieg eingenommen wurde.
Russlands Präsident Wladimir Putin betonte, wie wichtig es ist, die Ergebnisse der Nürnberger Prozesse zu schützen. Immerhin wurden die dort entwickelten Parameter für Verbrechen gegen die Menschlichkeit etwa die Grundlage für den Genozidbegriff der Vereinten Nationen.

Wir kommen immer wieder zu den Lektionen des Nürnberger Tribunals zurück, wir verstehen ihre Wichtigkeit dafür, um uns für die Wahrheiten des historischen Andenkens einzusetzen, um uns mutwilligen Verfälschungen und Fälschungen der Geschehnisse des Zweiten Weltkriegs – und insbesondere Versuchen gewissenloser, lügnerischer Rehabilitation und Heroisierung der Nazi-Verbrecher und ihrer Schergen – argumentiert und mit Beweisen an der Hand entgegenzustellen.

Dieses Bekenntnis gab Russlands Präsident Wladimir Putin bei der Eröffnung des internationalen wissenschaftlich-praktischen Forums "Lektionen von Nürnberg" ab. Warum gerade dieser Widerstand gegen Versuche allzu freier Deutung oder gar Umschreibung der Geschichte so wichtig ist und welche Rolle gerade die Nürnberger Prozesse, dafür gab Putin in seiner Ansprache zur Eröffnung des Forums Erklärungen.

Verstärkung eingetroffen: USA und BRD unterstützen Polen im diplomatischen Konflikt mit Russland
(Symbolbild: Booklet-Titelseite zur Zerstückelung der Tschechoslowakei infolge des Münchner Abkommens vom 01. Oktober 1938. Photoreproduktion. München.)

Ausgangspunkt des modernen Völkerrechts

Im Laufe der Nürnberger Prozesse beziehungsweise anhand der dabei gefällten Urteile wurden Grundsätze und Normen ausgearbeitet und festgehalten, die auch heute immer dann aktuell werden, wenn die Menschheit Bedrohungen und hochkomplizierten Herausforderungen der modernen Welt entgegensteht. Es ging damals aber gerade auch um das Etablieren solcher Grundsätze und Normen, und nicht bloß um eine Bestrafung führender Nazis, erinnert Russlands Staatschef:

Vor 75 Jahren, ein halbes Jahr nach der vernichtenden Niederstreckung des Nazismus, begann ein Gerichtsprozess, dem alle Welt mit gebannter Aufmerksamkeit beiwohnte. Wohl war das erbarmungslose Regime Hitlers, das einen verbrecherischen Krieg entfesselte, das ungeheuerliche Gräueltaten beging, wie die Geschichte sie noch nicht kannte, vernichtend geschlagen – doch damit konnte man unmöglich bereits den Schlusspunkt setzen. Der triumphale militärische Sieg musste durch die politische, rechtliche und moralische Verurteilung des Nationalsozialismus und seiner todbringenden Ideologie vollendet werden.

Dies war auch deswegen wichtig, weil das Verbrechen Gesichter und Namen hatte – und diese galt es aufzuzeigen:

Hinter dem Massenterror, den Massakern, der Versklavung und der gezielten Vernichtung ganzer Nationen standen ganz bestimmte Organisatoren – die höchste Führung Nazideutschlands. Und die Staaten, die Aggressionen ausgesetzt waren, die Millionen von Menschen, die unmenschliche Zerreißproben, Qual und Leid durchlebt hatten, rechneten zu Recht mit einer Vergeltung, einer unvermeidlichen öffentlichen Bestrafung der Verbrecher.

Putin ruft 75 Jahre nach Kriegsende angesichts der globalen Krise zu Einheit und Zusammenarbeit auf (Archivbild)

Sowjetunion und Alliierte – Rechtlichkeit gegen kollektives Aburteilen

Auf die Notwendigkeit eines rechtlich möglichst einwandfreien Prozesses im Namen der Menschheit und der Menschlichkeit machte die Sowjetunion bereits recht früh aufmerksam, während diese den westlichen Alliierten erst gegen Ende des Zweiten Weltkrieges dämmerte:

Gerade auf dieser Position – bezüglich der Einrichtung eines offenen Internationalen Militärgerichtshofs – beharrte die Sowjetunion bereits ab dem Jahr 1942 und behielt sie bei allen Verhandlungen mit den Alliierten grundsätzlich und konsequent bei – bei denen sich bekanntlich zunächst die Idee einer außergerichtlichen, lediglich politischen kollektiven Entscheidung zur Hinrichtung der Nazi-Führer durchsetzte.

Gegen Ende des Krieges erkannten jedoch viele führende Politiker die Notwendigkeit eines Prozesses, und im August 1945 verabschiedeten die Sowjetunion, die USA, Großbritannien und Frankreich ein Abkommen zu dessen Organisation. Dieser Rechtsakt wurde von 19 weiteren Ländern unterstützt. Das Tribunal hat zu Recht den Status eines Gerichtshofs der Völker erworben.

Russlands Außenminister Sergei Lawrow legt zum Gedenken einen Kranz am 'Grabmal des Unbekannten Soldaten' in Moskau nieder.

Aus den größten Opfern die richtige Konsequenz

Dass gerade die Sowjetunion, obwohl sie die größten Verluste an Menschenleben und materiellem Gut erlitten hatte, dennoch auf einem richtigen Gerichtsprozess statt einer Aburteilung bestand und diesen auch erwirkte, sollte eine ebenso wichtige Leistung im Namen der Völkergemeinschaft und des weltweiten Friedens nach dem Zweiten Weltkrieg werden wie zuvor die noch im Krieg erbrachte militärische und industrielle Leistung für den Sieg über die unmenschliche Kriegsmaschinerie der Nazis. Denn in Fällen systematischer und systemisch bedingter Gräueltaten muss genauso systematisch ermittelt werden, damit jedem, der sich schuldig macht, Gerechtigkeit widerfährt.

Das sowjetische Volk, das die mächtigsten, brutalsten Schläge des Aggressors über sich ergehen lassen musste und den aufopferungsvollsten Weg zum Sieg ging, hatte seine eigene, die höchste Rechnung zu begleichen – für die Toten auf den Schlachtfeldern, für die Verwundeten und Verstümmelten, für die zerstörten Städte und niedergebrannten Dörfer, für die Massenmorde an Menschen in den besetzten Gebieten.

Diese Gräueltaten an friedlichen Sowjetbürgern waren durch besondere Direktiven der Nazis diktiert, von den Nazis in den Rang staatlicher Politik erhoben. Die Sowjetunion erlitt im Zweiten Weltkrieg kolossale, nicht wieder gutzumachende Verluste, und unter den Millionen Opfern waren vor allem Militärs, die in Gefangenschaft starben, und erbarmungslos, brutal vernichtete Zivilisten.

Die Veröffentlichung von Archivdokumenten, die jetzt in Russland aktiv betrieben wird, und die Arbeit von Suchexpeditionen ermöglichen, bisher unbekannte, aber [davon nicht weniger] schreckliche Ereignisse des vergangenen Krieges, neue Fakten der Massenmorde an Sowjetbürgern – alten  Menschen, Frauen, Kindern – durch die Nazis und ihre Komplizen aufzudecken und neu zu begreifen.

Grundlage moderner Völkerrechtsbegriffe und Fundament globaler Sicherheit – und eine immer noch offene Akte des Grauens

Die Lektionen des Nürnberger Prozesses wurden mit einem so hohen Blutzoll bezahlt, dass heute noch, ein Dreivierteljahrhundert nach Kriegsende, Überreste der Opfer der Besatzer in den ehemals von Nazis besetzten Gebieten Schlachtfeldern gefunden werden:

Derartige Verbrechen haben keine Verjährungsfrist. Gerade beim Nürnberger Tribunal wurden sie bewertet, und die von ihm ausgearbeiteten Merkmale von Verbrechen gegen die Menschlichkeit definierten den Begriff des Völkermords selbst – und bildeten die Grundlage für die 1948 verabschiedete UN-Konvention gegen Völkermord.

Die Schlussfolgerungen aus Nürnberg sind auch heute noch aktuell. Vor einem Monat erkannte das russische [Bezirks-]Gericht von Solzy auf der Grundlage jener seiner Entscheidungen zum ersten Mal in der Geschichte der russischen Rechtsprechung die Massenhinrichtungen in der Nähe des Dorfes Schestjanaja Gorka im Gebiet Nowgorod als Akt des Völkermords an. Tausende von friedlichen, unschuldigen Menschen wurden dort auf ungeheuerliche Weise ermordet.

Die Ergebnisse der Nürnberger Prozesse – die der auf ihrer Grundlage aufgebauten Normen und Mechanismen des Völkerrechts – werden jedoch immer dann aufs Spiel gesetzt, wenn der Geschichtsrevisionismus bezogen auf den Zweiten Weltkrieg seine wilden Blüten treiben darf. Dies stellt nichts weniger als Untergrabung der weltweiten Sicherheit dar, mahnte Putin. Die rechtzeitige Entschärfung derartiger ideologischer Sprengladungen ist möglich – aber nur, wenn man sich, wie Russland, auf geschichtliche Tatsachen beruft. Hierfür liefern die Urteile des Nürnberger Prozesses – zumal sie eine Bewertung komplizierter Sachzusammenhänge darstellen – die notwendige argumentative Basis:

Wir wenden uns ständig den Lehren des Nürnberger Tribunals zu, und wir verstehen ihre Bedeutung im Kampf um die Wahrheiten des historischen Gedächtnisses, um argumentativ und mit Beweismaterial an der Hand absichtlicher Verzerrung und Verfälschung der Ereignisse des Zweiten Weltkriegs die Stirn zu bieten – insbesondere schamlosen, lügnerischen Versuchen, Naziverbrecher und ihre Komplizen zu rehabilitieren und sogar zu verherrlichen.

Wladimir Putin: Torpedieren der Prinzipien von Nürnberg ist ein Angriff auf die globale Sicherheit
Richterbank des Nürnberger Internationalen Militärgerichtshofs (IMT), die im September 1946 während des Kriegsverbrecherprozesses gegen Nazi-Führer im Zweiten Weltkrieg eingenommen wurde.
Russlands Außenminister Sergei Lawrow legt zum Gedenken einen Kranz am 'Grabmal des Unbekannten Soldaten' in Moskau nieder.

Die Gefahr für die globale Sicherheit, die Revisionismus bezogen auf Urteile des Nürnberger Prozesses ebenso birgt wie eine Aufweichung der darauf gegründeten Völkerrechtsnormen und -werte, betonte Russlands Präsident zum Schluss seiner Ansprache gesondert:

Ich will noch mehr sagen: Es ist die Pflicht der gesamten Weltgemeinschaft, über die Entscheidungen des Gerichtshofs der Völker schützend zu wachen, denn dies sind die Prinzipien, die den Werten der Weltordnung der Nachkriegszeit und den Normen des Völkerrechts zugrunde liegen. Sie bilden auch heute noch eine solide, verlässliche Grundlage für einen konstruktiven Dialog und eine konstruktive Zusammenarbeit – sie in Vergessenheit geraten zu lassen, ebenso wie Versuche, sie zu untergraben, sind ein Schlag gegen die Sicherheit des gesamten Planeten. Deshalb bringt Russland diese Fragen auf allen Verhandlungsplattformen beharrlich zur Sprache.

 

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