14.SEP.2020
https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/8379/
BERLIN/BRÜSSEL/BEIJING - (Eigener Bericht) - Die EU
und China wollen sich noch in diesem Jahr auf ein bilaterales
Investitionsabkommen einigen. Dies ist das zentrale Ergebnis der gestrigen
Videokonferenz der Unionsspitze mit dem chinesischen Präsidenten Xi Jinping.
Demnach sind in den bilateralen Verhandlungen zuletzt wichtige Fortschritte erzielt
worden, die einen Abschluss noch vor Jahresende realistisch erscheinen lassen.
Massives Interesse an einem Abkommen haben nicht
zuletzt deutsche Unternehmen, die - entgegen anderslautenden Medienberichten -
in ihrer großen Mehrheit nicht wegen der aktuellen politischen Spannungen aus
der Volksrepublik abwandern, sondern in zahlreichen Fällen ihre Präsenz dort
noch "vertiefen", wie die European Chamber of Commerce in China
konstatiert.
Während der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell vor
"chinesischem Expansionismus" warnt und den Schulterschluss der EU
gegen Beijing verlangt, spricht sich der Staatsminister im Auswärtigen Amt
Niels Annen dafür aus, mit China "im Dialog" zu bleiben: Es gelte im
Konflikt mit Beijing Eigenständigkeit gegenüber den USA zu wahren.
Verhandlungsfortschritte
In den Verhandlungen über das Investitionsabkommen
zwischen der EU und China hätten zuletzt wichtige Fortschritte erzielt werden
können, heißt es in einer gemeinsamen Presseerklärung, die EU-Ratspräsident
Charles Michel, EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und, im Namen
der Berliner EU-Ratspräsidentschaft, Bundeskanzlerin Angela Merkel nach der
gestrigen Videokonferenz mit Chinas Präsident Xi Jinping konstatierten.
Dabei gehe es um "Fortschritte bei den
Verhaltensregeln für Staatsunternehmen, in Bezug auf den erzwungenen
Technologietransfer und die Transparenz von Subventionen".
Offene Fragen gebe es noch bei den "Problemen des gleichen Marktzugangs
und der nachhaltigen Entwicklung"; auf diesen beiden Feldern müsse "dringend
... weitergearbeitet werden".
Die gestrigen Gespräche seien zudem
"wichtig" gewesen, heißt es weiter, "um die Dynamik des
hochrangigen Austausches zwischen der EU und China aufrecht zu erhalten".
Man habe scharfe Kritik an der "Aushöhlung der Grundrechte und
-freiheiten" in Hongkong sowie der "Behandlung von ethnischen und
religiösen Minderheiten" in der Volksrepublik geübt. Dennoch wolle man
nicht nur das Investitionsabkommen bis Jahresende unter Dach und Fach bringen,
sondern auch "die Gespräche über die Strategische Agenda 2025"
fortführen, die "die Zusammenarbeit zwischen der EU und China"
bündeln soll.
Der ursprünglich geplante EU-China-Gipfel, der
pandemiebedingt abgesagt werden musste, soll nächstes Jahr nachgeholt werden.
Der mit Abstand größte Markt
Mit seinem Bestreben, die Arbeiten an dem
EU-Investitionsabkommen mit China noch dieses Jahr zum Abschluss zu bringen,
folgt Brüssel Forderungen von Unternehmen aus diversen EU-Staaten, insbesondere
aus Deutschland.
Hintergrund ist nicht nur, dass die Volksrepublik als
Absatzmarkt deutscher Firmen eine immer größere Bedeutung erhält. Tatsächlich
hat sie in den ersten sieben Monaten des laufenden Jahres, beschleunigt durch
die Covid-19-Pandemie, die in Europa und in Nordamerika weitaus schlimmere Folgen
zeitigt als in China, Frankreich als zweitgrößtes Zielland deutscher Exporte
abgelöst und könnte, wie es in einer Analyse des Kölner Instituts der
Deutschen Wirtschaft (IW) heißt, schon gegen Jahresende "die neue
Nummer eins" unter den Absatzmärkten der Bundesrepublik werden.
Zudem gewinnt die Volksrepublik weiter an
Attraktivität als Produktionsstandort für den chinesischen Markt, der mit etwa 1,4
Milliarden potenziellen Kunden diejenigen der EU (rund 450 Millionen
Einwohner) und der Vereinigten Staaten (330 Millionen Einwohner)
zusammengenommen um mehr als die Hälfte übertrifft. Dem chinesischen Wachstum
verdanken europäische Unternehmen teilweise beispiellose Profite. So konnten
laut einer Umfrage der European Chamber of Commerce in China 39 Prozent ihrer
Mitgliedsfirmen im vergangenen Jahr ein Umsatzwachstum von bis zu 20 Prozent
erzielen; elf Prozent erreichten sogar noch höhere Wachstumsraten.
Mediales Bild und ökonomische Realität
Entsprechend bestätigt die Umfrage der European
Chamber of Commerce in China Berichte nicht, die in deutschen Medien zur Zeit
kolportiert werden - Berichte, denen zufolge sich westliche Firmen aktuell
intensiv bemühten, ihre Produktionsstätten aus China in andere Staaten zu
verlegen, etwa in Länder des südostasiatischen Staatenbundes ASEAN oder
nach Indien.
Tatsächlich gilt dies im Wesentlichen für diejenigen
Firmen, die in China schon lange zu niedrigsten Löhnen für die Ausfuhr in alle
Welt produzieren. Bereits vor Jahren haben nicht wenige von ihnen begonnen, sich
in Ländern wie Vietnam oder Kambodscha um den Aufbau neuer Fabriken zu
bemühen, weil die Löhne in China steigen, während sie in Südostasien
noch deutlich niedriger sind.
Wie die European Chamber of Commerce in China
konstatiert, hält die überwiegende Mehrheit ihrer Mitglieder an ihren
Aktivitäten in der Volksrepublik jedoch fest; Unternehmen, die in China für den
riesigen chinesischen Markt produzieren, sind tendenziell sogar bemüht, die
Vor-Ort-Produktion noch zu vertiefen. Selbst im Februar, als die Covid-19-Pandemie
in China am schlimmsten wütete, dachten der Handelskammer zufolge nur elf
Prozent der Firmen aus der EU darüber nach, in China geplante Investitionen in
andere Länder umzulenken; ihre Zahl habe seitdem, so heißt es, gewiss nicht
zugenommen.
Ex-Bundesverteidigungsminister Rudolf Scharping, heute
Strategieberater für deutsche Unternehmen in China, urteilt: "Es gibt
einen Unterschied zwischen dem medialen, vor allem politisch geprägten Bild des
Verhältnisses [der EU zu China] und der [ökonomischen] Realität".
"Systemischer Rivale"
Dabei positioniert sich die EU - im Bestreben, ihren
Weltmachtanspruch gegen das aufsteigende China durchzusetzen - tatsächlich auch
offensiv gegen Beijing. Heißt es etwa in der EU-Chinastrategie vom März 2019,
China sei "Partner", "Wettbewerber" und
"systemischer Rivale" zugleich, so wird gegenwärtig vor allem die
Rivalität betont.
Hintergrund ist nicht zuletzt, dass inzwischen 15
EU-Mitglieder, weil sie ihre ökonomischen Interessen allein im EU-Rahmen
nur unzulänglich berücksichtigt finden, eigene Wirtschaftsvereinbarungen mit
China im Rahmen der "Neuen Seidenstraße" ("Belt and Road
Initiative", BRI) getroffen haben und dass in manchen EU-Ländern,
darunter Italien, aber auch Deutschland, die Volksrepublik spürbar an Ansehen
gewinnt.
Im Bemühen, die eigenen Reihen zu schließen und
Beijing in die Defensive zu drängen, hat unlängst etwa der EU-Außenbeauftragte
Josep Borrell geäußert, die EU müsse gegen "den chinesischen
Expansionismus" zu Felde ziehen, der darauf abziele, "die
internationale Ordnung in ein selektives multilaterales System mit chinesischen
Merkmalen zu verwandeln"; dies gelte es zu verhindern und "die
europäischen Werte" sowie die eigene Technologie zu schützen. Borrell
forderte einen offensiven Schulterschluss der Union gegen die Volksrepublik,
sprach sich zugleich aber dagegen aus, die EU im Konflikt mit Beijing offen an
der Seite der Vereinigten Staaten zu positionieren.
Keine Entkopplung
Wie Berlin die widersprüchlichen Elemente in der
Chinapolitik zusammenzufügen sucht, hat am Wochenende der Staatsminister im
Auswärtigen Amt Niels Annen erläutert. Annen erklärte, wegen der
"Menschenrechtslage" in der Volksrepublik und wegen Beijings jüngster
"Militärmanöver im Südchinesischen Meer" habe es eine
"Neuorientierung in Europa" gegeben; als Beispiel für die neuen
aggressiven Töne können Borrells Äußerungen gelten. Es gebe allerdings
"auch den Willen" in der EU, "mit China im Dialog zu
bleiben", konstatierte Annen nicht zuletzt mit Blick auf die Interessen
der Wirtschaft: "Wir wollen eine Partnerschaft auf Augenhöhe."[10] Es
gebe "aus Washington seit Monaten massive politische Angriffe auf
Peking", "eine regelrechte Kampagne"; "eine neue globale
Konfrontation" nach dem Modell des Kalten Krieges aber sei "nicht in
unserem Interesse": "Entkopplung kann nicht unsere Strategie
sein." Annen fügte hinzu, daher spreche er sich "gegen eine
Dämonisierung von China aus"; es gelte "Gesprächskanäle offen zu
halten".
Die Berliner Strategie zielt demnach darauf ab, sich
zwar offensiv gegen Beijing zu positionieren, zugleich allerdings
Eigenständigkeit gegenüber Washington zu wahren - im Interesse der
expandierenden deutschen Industrie.