Montag, 21. September 2020

Geschäft statt Entkopplung

 

14.SEP.2020

german-foreign-policy

https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/8379/

 


BERLIN/BRÜSSEL/BEIJING - (Eigener Bericht) - Die EU und China wollen sich noch in diesem Jahr auf ein bilaterales Investitionsabkommen einigen. Dies ist das zentrale Ergebnis der gestrigen Videokonferenz der Unionsspitze mit dem chinesischen Präsidenten Xi Jinping. Demnach sind in den bilateralen Verhandlungen zuletzt wichtige Fortschritte erzielt worden, die einen Abschluss noch vor Jahresende realistisch erscheinen lassen.

Massives Interesse an einem Abkommen haben nicht zuletzt deutsche Unternehmen, die - entgegen anderslautenden Medienberichten - in ihrer großen Mehrheit nicht wegen der aktuellen politischen Spannungen aus der Volksrepublik abwandern, sondern in zahlreichen Fällen ihre Präsenz dort noch "vertiefen", wie die European Chamber of Commerce in China konstatiert.

Während der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell vor "chinesischem Expansionismus" warnt und den Schulterschluss der EU gegen Beijing verlangt, spricht sich der Staatsminister im Auswärtigen Amt Niels Annen dafür aus, mit China "im Dialog" zu bleiben: Es gelte im Konflikt mit Beijing Eigenständigkeit gegenüber den USA zu wahren.

 

Verhandlungsfortschritte

 

In den Verhandlungen über das Investitionsabkommen zwischen der EU und China hätten zuletzt wichtige Fortschritte erzielt werden können, heißt es in einer gemeinsamen Presseerklärung, die EU-Ratspräsident Charles Michel, EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und, im Namen der Berliner EU-Ratspräsidentschaft, Bundeskanzlerin Angela Merkel nach der gestrigen Videokonferenz mit Chinas Präsident Xi Jinping konstatierten.

Dabei gehe es um "Fortschritte bei den Verhaltensregeln für Staatsunternehmen, in Bezug auf den erzwungenen Technologietransfer und die Transparenz von Subventionen". Offene Fragen gebe es noch bei den "Problemen des gleichen Marktzugangs und der nachhaltigen Entwicklung"; auf diesen beiden Feldern müsse "dringend ... weitergearbeitet werden".

Die gestrigen Gespräche seien zudem "wichtig" gewesen, heißt es weiter, "um die Dynamik des hochrangigen Austausches zwischen der EU und China aufrecht zu erhalten". Man habe scharfe Kritik an der "Aushöhlung der Grundrechte und -freiheiten" in Hongkong sowie der "Behandlung von ethnischen und religiösen Minderheiten" in der Volksrepublik geübt. Dennoch wolle man nicht nur das Investitionsabkommen bis Jahresende unter Dach und Fach bringen, sondern auch "die Gespräche über die Strategische Agenda 2025" fortführen, die "die Zusammenarbeit zwischen der EU und China" bündeln soll.

Der ursprünglich geplante EU-China-Gipfel, der pandemiebedingt abgesagt werden musste, soll nächstes Jahr nachgeholt werden.

 

Der mit Abstand größte Markt

 

Mit seinem Bestreben, die Arbeiten an dem EU-Investitionsabkommen mit China noch dieses Jahr zum Abschluss zu bringen, folgt Brüssel Forderungen von Unternehmen aus diversen EU-Staaten, insbesondere aus Deutschland.

Hintergrund ist nicht nur, dass die Volksrepublik als Absatzmarkt deutscher Firmen eine immer größere Bedeutung erhält. Tatsächlich hat sie in den ersten sieben Monaten des laufenden Jahres, beschleunigt durch die Covid-19-Pandemie, die in Europa und in Nordamerika weitaus schlimmere Folgen zeitigt als in China, Frankreich als zweitgrößtes Zielland deutscher Exporte abgelöst und könnte, wie es in einer Analyse des Kölner Instituts der Deutschen Wirtschaft (IW) heißt, schon gegen Jahresende "die neue Nummer eins" unter den Absatzmärkten der Bundesrepublik werden.

Zudem gewinnt die Volksrepublik weiter an Attraktivität als Produktionsstandort für den chinesischen Markt, der mit etwa 1,4 Milliarden potenziellen Kunden diejenigen der EU (rund 450 Millionen Einwohner) und der Vereinigten Staaten (330 Millionen Einwohner) zusammengenommen um mehr als die Hälfte übertrifft. Dem chinesischen Wachstum verdanken europäische Unternehmen teilweise beispiellose Profite. So konnten laut einer Umfrage der European Chamber of Commerce in China 39 Prozent ihrer Mitgliedsfirmen im vergangenen Jahr ein Umsatzwachstum von bis zu 20 Prozent erzielen; elf Prozent erreichten sogar noch höhere Wachstumsraten.

 

Mediales Bild und ökonomische Realität

 

Entsprechend bestätigt die Umfrage der European Chamber of Commerce in China Berichte nicht, die in deutschen Medien zur Zeit kolportiert werden - Berichte, denen zufolge sich westliche Firmen aktuell intensiv bemühten, ihre Produktionsstätten aus China in andere Staaten zu verlegen, etwa in Länder des südostasiatischen Staatenbundes ASEAN oder nach Indien.

Tatsächlich gilt dies im Wesentlichen für diejenigen Firmen, die in China schon lange zu niedrigsten Löhnen für die Ausfuhr in alle Welt produzieren. Bereits vor Jahren haben nicht wenige von ihnen begonnen, sich in Ländern wie Vietnam oder Kambodscha um den Aufbau neuer Fabriken zu bemühen, weil die Löhne in China steigen, während sie in Südostasien noch deutlich niedriger sind.

 

Wie die European Chamber of Commerce in China konstatiert, hält die überwiegende Mehrheit ihrer Mitglieder an ihren Aktivitäten in der Volksrepublik jedoch fest; Unternehmen, die in China für den riesigen chinesischen Markt produzieren, sind tendenziell sogar bemüht, die Vor-Ort-Produktion noch zu vertiefen. Selbst im Februar, als die Covid-19-Pandemie in China am schlimmsten wütete, dachten der Handelskammer zufolge nur elf Prozent der Firmen aus der EU darüber nach, in China geplante Investitionen in andere Länder umzulenken; ihre Zahl habe seitdem, so heißt es, gewiss nicht zugenommen.

Ex-Bundesverteidigungsminister Rudolf Scharping, heute Strategieberater für deutsche Unternehmen in China, urteilt: "Es gibt einen Unterschied zwischen dem medialen, vor allem politisch geprägten Bild des Verhältnisses [der EU zu China] und der [ökonomischen] Realität".

 

"Systemischer Rivale"

 

Dabei positioniert sich die EU - im Bestreben, ihren Weltmachtanspruch gegen das aufsteigende China durchzusetzen - tatsächlich auch offensiv gegen Beijing. Heißt es etwa in der EU-Chinastrategie vom März 2019, China sei "Partner", "Wettbewerber" und "systemischer Rivale" zugleich, so wird gegenwärtig vor allem die Rivalität betont.

Hintergrund ist nicht zuletzt, dass inzwischen 15 EU-Mitglieder, weil sie ihre ökonomischen Interessen allein im EU-Rahmen nur unzulänglich berücksichtigt finden, eigene Wirtschaftsvereinbarungen mit China im Rahmen der "Neuen Seidenstraße" ("Belt and Road Initiative", BRI) getroffen haben und dass in manchen EU-Ländern, darunter Italien, aber auch Deutschland, die Volksrepublik spürbar an Ansehen gewinnt.

Im Bemühen, die eigenen Reihen zu schließen und Beijing in die Defensive zu drängen, hat unlängst etwa der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell geäußert, die EU müsse gegen "den chinesischen Expansionismus" zu Felde ziehen, der darauf abziele, "die internationale Ordnung in ein selektives multilaterales System mit chinesischen Merkmalen zu verwandeln"; dies gelte es zu verhindern und "die europäischen Werte" sowie die eigene Technologie zu schützen. Borrell forderte einen offensiven Schulterschluss der Union gegen die Volksrepublik, sprach sich zugleich aber dagegen aus, die EU im Konflikt mit Beijing offen an der Seite der Vereinigten Staaten zu positionieren.

 

Keine Entkopplung

 

Wie Berlin die widersprüchlichen Elemente in der Chinapolitik zusammenzufügen sucht, hat am Wochenende der Staatsminister im Auswärtigen Amt Niels Annen erläutert. Annen erklärte, wegen der "Menschenrechtslage" in der Volksrepublik und wegen Beijings jüngster "Militärmanöver im Südchinesischen Meer" habe es eine "Neuorientierung in Europa" gegeben; als Beispiel für die neuen aggressiven Töne können Borrells Äußerungen gelten. Es gebe allerdings "auch den Willen" in der EU, "mit China im Dialog zu bleiben", konstatierte Annen nicht zuletzt mit Blick auf die Interessen der Wirtschaft: "Wir wollen eine Partnerschaft auf Augenhöhe."[10] Es gebe "aus Washington seit Monaten massive politische Angriffe auf Peking", "eine regelrechte Kampagne"; "eine neue globale Konfrontation" nach dem Modell des Kalten Krieges aber sei "nicht in unserem Interesse": "Entkopplung kann nicht unsere Strategie sein." Annen fügte hinzu, daher spreche er sich "gegen eine Dämonisierung von China aus"; es gelte "Gesprächskanäle offen zu halten".

Die Berliner Strategie zielt demnach darauf ab, sich zwar offensiv gegen Beijing zu positionieren, zugleich allerdings Eigenständigkeit gegenüber Washington zu wahren - im Interesse der expandierenden deutschen Industrie.

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