6.08.2020
Der
6. August 1945 war der Tag Null der Weltgeschichte. Der Tag, an dem
bewiesen wurde, dass Menschen fähig sind, die Menschheit als Gattung
auszurotten und den Planeten komplett zu verwüsten. Der Kampf gegen diese
Gefahr wird in alle Zukunft weitergehen müssen.
von
Leo Ensel
Vor
genau 75 Jahren, am 6. August 1945, einem Montag, um 8 Uhr 16 Ortszeit wurde erstmals
eine Atombombe über belebtem Gebiet gezündet – sie explodierte mit einer
Hitzeentwicklung von 4.000 Grad Celsius 600 Meter über dem Shima-Krankenhaus
der japanischen Stadt Hiroshima, in der am Katastrophentag um die 400.000
Menschen lebten und die bis zu diesem Zeitpunkt von Bombardierungen verschont
geblieben war.
Ausgeklinkt
wurde sie in einer Höhe von fast zehn Kilometern aus dem amerikanischen
B-29-Bomber „Enola Gay“, nachdem eine Dreiviertelstunde zuvor bereits ein
anderer Bomber die Stadt überflogen hatte, um die Wetterbedingungen zu prüfen.
Es war ein schöner sonniger Tag, ganz klarer Himmel.
Die Bombe, in ihrer Sprengkraft vergleichbar mit einer heutigen
‚taktischen‘ Atomwaffe, hatten die US-Militärs auf den Namen „Little
Boy“ getauft.
Hunderttausende
von „Testopfern“
Mehr
als 70.000 Menschen waren sofort tot. Die Bombe tötete 90 Prozent der
Bevölkerung in einem Radius von 500 Metern um den Ground Zero. Die meisten
Menschen verdampften oder verglühten. Innerhalb einer Sekunde zerstörte die
Druckwelle 80 Prozent der Innenstadt. Ein Feuersturm vernichtete elf
Quadratkilometer der Großstadt und trieb den für Atombomben
charakteristischen Atompilz bis in 13 Kilometer Höhe, der zwanzig
Minuten später als hochkontaminierter radioaktiver Fallout auf die
Umgebung niederging.
Tote:
282.000.
Davon
50 Prozent am Tag des Bombenabwurfes, 35 Prozent in den folgenden drei
Monaten, 15 Prozent seit November 1945. (Die Zahlen variieren. Aber auch
wenn die niedrigste Variante, 170.000 Opfer, unterstellt wird, bleibt sich im
Prinzip alles gleich.) Krankheiten der Überlebenden (u.a.): Blutkrankheiten
(Perniziöse Anämie, Leukämie), durch Verbrennungen verursachte Hautwucherungen
(Keloide), Lebererkrankungen, Katarakte, Posttraumatische Belastungsstörungen.
Bis heute sterben Menschen an durch den Bombenabwurf verursachten
Krebserkrankungen.
Drei
Tage später, am 9. August um
11 Uhr 02, zündeten die USA eine weitere Atombombe – sie trug den Namen „Fat
Man“ – über der im Südwesten Japans gelegenen Hafenstadt Nagasaki. Tote:
Zwischen 60.000 und 80.000. Verletzte: Um die 75.000.
Monate
später schickte das U.S. Strategic Bombing Survey Ärzte in die weitgehend
zerstörten und verstrahlten Städte. Ihre Aufgabe war es jedoch nicht, den
zahllosen verletzten und hochtraumatisierten Menschen medizinische
Hilfestellung zu leisten. Ihr Job war es, die Auswirkungen der radioaktiven
Strahlung auf den menschlichen Organismus wissenschaftlich zu erforschen.
Bei den Hunderttausenden von Toten und Verletzten der beiden japanischen Städte
hatte es sich aus US-amerikanischer Sicht – die ‚Feder‘ sträubt sich dies
niederzuschreiben, aber der Zynismus der Fakten muss adäquat auf den Begriff
gebracht werden – um „Testopfer“, um „menschliche Versuchskaninchen“ gehandelt.
Die
später verbreitete Behauptung, die Atombomben seien auf Hiroshima und Nagasaki
abgeworfen worden, um Japan zur Kapitulation zu zwingen, war eine Propagandalüge.
Endzeit
und Zeitenende
Der
6. August 1945 war nicht ein Tag irgendeiner schrecklichen Katastrophe.
Schließlich wimmelt die menschliche Geschichte von Untaten und grausigen
Verbrechen.
Was
dieses Datum zu einer Zäsur – und nicht nur der Menschheitsgeschichte, sondern
auch der des gesamten Planeten – macht, ist die Tatsache, dass seit diesem Tage
Menschen in der Lage sind, sich selbst als Gattung, möglicherweise gar
sämtliches Leben auf diesem Globus zu vernichten.
Der
Philosoph Günther Anders (1902-1992), der sich als einer der Allerersten die
Aufgabe gestellt hat, für diese präzedenzlose – von keinem Philosophen, selbst
keinem Theologen jemals vorhergesehene – Möglichkeit der menschgemachten
Apokalypse eine angemessene Sprache zu finden (denn was man nicht
benennen kann, kann man auch nicht verstehen, nein: nicht vorstellen, nein:
noch nicht einmal richtig wahrnehmen), hat diesen unerhörten Umstand Ende der
Fünfziger Jahre auf klassische Formulierungen gebracht.
Hiroshima
als Weltzustand. Mit dem 6. August 1945, dem Hiroshimatage, hat ein neues
Zeitalter begonnen. Das Zeitalter, in dem wir in jedem Augenblick jeden Ort,
nein unsere Erde als ganze in ein Hiroshima verwandeln können. Seit diesem Tage
sind wir modo negativo allmächtig geworden; aber da wir in jedem Augenblick
zugleich ausgelöscht werden können, bedeutet das zugleich: Seit diesem Tage
sind wir total ohnmächtig. Gleich wie lange, gleich ob es ewig währen wird,
dieses Zeitalter ist das letzte: Denn sein Charakteristikum, die Möglichkeit
unserer Selbstauslöschung, kann niemals enden – es sei denn durch das Ende
selbst.
Die
Konsequenz: Das menschliche Dasein definiert sich nach Anders seitdem als
„Frist“. Wir leben als „Gerade-noch-nicht-Nichtseiende“. Durch diese Tatsache
hat sich die moralische Grundfrage verändert: Der klassischen Frage „Wie wollen
wir leben?“ hat sich die Frage „Werden wir leben?“ untergeschoben.
Anders: „Auf die ‚Wie-Frage‘ gibt es für uns, die wir in unserer Frist
gerade noch leben, nur die eine Antwort: ‚Wir haben dafür zu sorgen, dass die
Endzeit, obwohl sie jederzeit in Zeitenende umschlagen könnte, endlos werde;
also dass der Umschlag niemals eintrete.‘“
Zeitweiliger
Widerstand
Die
scharfsinnigen Analysen von Menschen wie Günther Anders und Albert Einstein
– "Die entfesselte Kraft des Atoms hat alles verändert – nur nicht
unsere Art zu denken, und so treiben wir auf eine Katastrophe
ohnegleichen zu. Eine neue Art von Denken ist notwendig, wenn die
Menschheit weiterleben will." – blieben nicht völlig wirkungslos.
Im
Juli 1955 rief der Philosoph Bertrand Russell zur Ächtung eines
künftigen Weltkrieges auf, der unweigerlich mit Massenvernichtungsmitteln
ausgetragen werden würde. Sein Aufruf wurde unter anderem von den Physiknobelpreisträgern
Max Born und Albert Einstein unterzeichnet. Ende der Fünfziger Jahre entstanden
in der alten Bundesrepublik als Reaktion auf die zeitweise geplante Ausrüstung
der Bundeswehr mit taktischen Atombomben die Bewegung „Kampf dem
Atomtod“ und die „Ostermarschbewegung“.
Gegen
eine – vom damaligen Bundeskanzler Konrad Adenauer als „Weiterentwicklung der
Artillerie“ – verharmloste atomare Bewaffnung der Bundeswehr wandten sich im
April 1957 auch 18 hochangesehene Atomphysiker der Bundesrepublik
Deutschland (unter ihnen die Nobelpreisträger Otto Hahn, Max Born und Werner
Heisenberg) in ihrem gemeinsamen „Göttinger Manifest“ und verbanden dies
mit einem unzweideutigen Akt zivilen Ungehorsams:
Jedenfalls
wäre keiner der Unterzeichnenden bereit, sich an der Herstellung, der Erprobung
oder dem Einsatz von Atomwaffen in irgendeiner Weise zu beteiligen.
Die
Ostermarschbewegung starb in den Sechziger Jahren zeitweise ab – die SPD hatte
ihr auf amerikanischen Druck den Finanzhahn zugedreht –, erlebte aber in der
ersten Hälfte der Achtziger Jahre im Zuge des sogenannten NATO-Nachrüstungsbeschlusses
zusammen mit der Neuen Friedensbewegung eine Renaissance. Nie gab
es, was die Gefahr einer möglichen atomaren Vernichtung betrifft, so viele
sensible (und aktionsbereite) Bevölkerungsgruppen wie in den Achtziger Jahren
in Westeuropa, den USA und – unter sehr anderen Bedingungen – auch in einigen
Staaten des Warschauer Paktes.
Für
einen kurzen wunderschönen Moment erreichte in Gestalt von Michail
Gorbatschows Politik des „Neuen Denkens“ Einsteins
Postulat aus dem Jahre 1946 sogar die Höhen der Weltpolitik.Und keinesfalls
vergebens: Vor allem dank der Entschlossenheit der damaligen
Sowjetadministration wurden sage und schreibe 80 Prozent aller
Atomsprengköpfe weltweit verschrottet!
Zweitausendfünfhundertmal
ein Zweiter Weltkrieg
Seitdem
haben sich die Zeiten allerdings gehörig gewechselt. In den vergangenen beiden
Jahrzehnten wurden – ausschließlich auf Initiative der USA – fast sämtliche
Abrüstungs- und Rüstungskontrollverträge geschleift, unter anderem der
bedeutendste Abrüstungsvertrag der Weltgeschichte, der Ende 1987 von Michail
Gorbatschow und Ronald Reagan unterzeichnete INF-Vertrag.
Jetzt
bekommen die Kalten Krieger wieder Oberwasser, Atombomben sind längst wieder salonfähig,
eine neue, noch gefährlichere nukleare Aufrüstungsspirale steht unmittelbar ins
Haus, Szenarien für einen möglichen Ersteinsatz und einen angeblich begrenz-
und gewinnbaren Atomkrieg liegen bereits in den Schubladen und deutsche
Politiker/innen faseln von „nuklearer Teilhabe“.
Und
dies, obwohl die gegenwärtig weltweit gelagerten Atombomben zusammen noch über
eine Sprengkraft von rund zweitausendfünfhundert Zweiten Weltkriegen
verfügen!
Widerstand
gegen diese Entwicklung, wie beispielsweise in Gestalt der 2017 mit dem
Friedensnobelpreis ausgezeichneten Internationalen Kampagne für die Ächtung
und Abschaffung von Atomwaffen (ICAN) oder der Initiative „Justitia et Pax“, regt sich momentan erst zaghaft.
Die
dunkle Wolke
Und
die Aufgabe, die vor uns liegt, ist nichts weniger als gigantisch: Das Ziel
muss nicht nur mit beispielloser Hartnäckigkeit verfolgt werden, sondern auch
illusionslos und – endlos! Auch dies hat Günther Anders bereits Ende der
Fünfziger Jahre meisterhaft auf den Begriff gebracht:
So
gewaltig der Mensch sein mag – eines kann er nicht: Sein eigenes Können kann er
nicht widerrufen! Und so großartig die Fähigkeit seines Lernens sein mag, eines
kann er nicht lernen; nämlich dasjenige, was er kann, zu verlernen. Die
Atomwaffen, die er gerade hat, die kann er zwar abschaffen; aber seine Kenntnis
der Herstellung, die kann er nicht wieder loswerden.
Das heißt: Selbst wenn es keinen
einzigen Atomsprengkopf mehr gäbe, keine Versuchsexplosion, keinen Testflug,
keine Abschussrampe und kein Land, das an der Herstellung dieser Waffen
arbeiten würde – behoben wäre damit die Gefahr nicht!
Da
durch die momentane Abschaffung der bedrohenden Geräte die Fähigkeit, diese
Geräte herzustellen, nicht mit-abgeschafft wäre, würden wir uns noch immer, und
zwar für alle Zukunft, in der apokalyptischen Situation befinden, also in der
Situation, in der sich die Menschheit durch sich selbst zugrunde richten
könnte.
Der
notwendige Kampf für eine physische Vernichtung aller existierenden
Massenvernichtungsmittel – für die sich vor wenigen Tagen der fast
neunzigjährige Michail Gorbatschow erneut ausgesprochen hat
– muss daher nach Günther Anders durch Maßnahmen einer anderen Kategorie
ergänzt werden, durch Maßnahmen, die uns davon abhalten, dasjenige zu tun, was
wir tun können, sprich: diejenigen Geräte herzustellen, deren Herstellungsart
zu vergessen wir unfähig sind.
Das
heißt aber: Die Verwandlung des Menschen wird eine Verwandlung seiner Moral
sein müssen. Das Bewusstsein, dass es sich hier um ein absolutes Tabu handelt,
wird in jedem von uns Milliarden Menschen so tiefe Wurzeln schlagen und wird so
allgemein werden müssen, dass, wer auch immer in Betracht zöge, sich zur
Durchsetzung seiner politischen Ziele dieser Mittel zu bedienen, sich der
Ächtung der gesamten Menschheit gegenübersähe.
Kurz
und ohne Illusionen: Der Kampf gegen die Gefahr der atomaren Selbstvernichtung
der Menschheit wird ein niemals mehr endender Kampf sein müssen. Denn jeder der
noch kommenden Generationen – sofern es sie geben wird – wird diese Gefahr als
Möglichkeit wie eine dunkle Wolke vorausziehen. – Lassen wir dem großen
Philosophen des Atomzeitalters das letzte Wort:
Jeder
gewonnene Tag wird zwar ein gewonnener Tag sein. Aber kein gewonnener Tag wird
eine Garantie für die Gewinnung des morgigen Tages darstellen. Ankommen werden
wir niemals. Was vor uns steht, ist also die Endlosigkeit der Unsicherheit. Und
unsere nicht endende Aufgabe wird sein, dass mindestens diese Unsicherheit kein
Ende nehme.
Welcome back in the Eighties! – 30 Jahre nach dem
INF-Vertrag drohen neue Atomraketen in Europa
22.10.2018 • 21:20 Uhr
Trumps Kündigung des INF-Vertrags, der 30 Jahre den
Frieden in Europa sicherte, ist brandgefährlich. Leidtragender einer
erneuten nuklearen Aufrüstungsdynamik wird Europa sein. Diplomatischer Druck
und zivilgesellschaftlicher Widerstand sind unbedingt geboten!
von Leo Ensel
Das kam nicht über Nacht! Trumps Entscheidung vom
Samstag, den INF-Vertrag aufzukündigen, hatte sich seit Längerem abgezeichnet.
Immer wieder hatten der Westen und Russland sich in den letzten Jahren
gegenseitig vorgeworfen, den von Michail Gorbatschow und Ronald Reagan im
Dezember 1987 abgeschlossenen Vertrag über das Verbot landgestützter Kurz-
und Mittelstreckenraketen (Intermediate Nuclear Forces) einer Reichweite
von 500 bis 5.500 Kilometern zu verletzen.
Der INF-Vertrag ist nicht irgendein Abrüstungsvertrag
zwischen den atomaren Supermächten. Dieser Vertrag hat über 30 Jahre lang
nichts weniger als den Frieden in Europa gesichert.
Das Schlachtfeld der Supermächte
Die erste Hälfte der Achtziger Jahre war
die gefährlichste Phase des Kalten Krieges. Bis an die Zähne
bewaffnet standen sich die beiden Supermächte USA und die Sowjetunion
gegenüber. Keine Seite traute der anderen. Beide rechneten damit, dass der
Kalte Krieg früher oder später in einen heißen Krieg umkippen könnte oder gar
würde. Unter US-Militärstrategen kursierten bereits Szenarien mit dem Titel „Den
Atomkrieg führbar und gewinnbar machen!“
Amerikanische Reisebüros bewarben Tourismusreisen auf
den Alten Kontinent mit dem Slogan „Besuchen Sie Europa, solange es noch
steht!“
Europa, zu beiden Seiten des Eisernen Vorhangs, war vollgestopft
mit Atomsprengköpfen. Allein 7.000 auf Seiten der NATO. Jeder von ihnen ein
mehrfaches Hiroshima. Von Osten drohten die sowjetischen SS 20-Raketen. Die
Vorwarnzeiten hatten sich nach der Stationierung der amerikanischen Pershing
II und Cruise Missiles Ende 1983 auf acht Minuten, nach den Gegenmaßnahmen
des Warschauer Paktes, der Stationierung von Kurzstreckenraketen in der DDR und
der Tschechoslowakei, auf ganze vier Minuten reduziert! Fehlalarme und Missinterpretationen der
Maßnahmen der anderen Seite waren immer wieder vorgekommen.
Die Menschheit hat großes Glück gehabt, dass sie
allesamt glimpflich verliefen. Im Falle eines absichtlichen oder
versehentlichen „nuklearen Schlagabtausches“, wie ein Atomkrieg euphemistisch
genannt wurde, wäre ganz Europa in eine verstrahlte Wüste verwandelt worden –
mit unabsehbaren Folgen für den ganzen Planeten. In beiden deutschen Staaten,
dem Schlachtfeld der Supermächte, wäre buchstäblich kein Stein auf dem anderen
geblieben.
Gorbatschows Politik des „Neuen Denkens“
So sah die Situation bis Mitte der Achtziger Jahre
aus. Die Wende kam 1985 mit der Administration um Michail Gorbatschow
und der von ihr konzipierten Politik des „Neuen Denkens“, die das Überleben
der gesamten Menschheit zum Dreh- und Angelpunkt der Sicherheitspolitik
erhob. Gorbatschow hatte den Mut zur Vision einer atomwaffenfreien Welt und
den erklärten Willen aus der Logik des Wettrüstens auszusteigen.
Dass er den Hebel als erstes bei den Mittel- und
Kurzstreckenraketen in Europa ansetzte und bereit war, zugunsten realer
Abrüstungsschritte vom arithmetischen Kleinklein der seit Jahren festgefahrenen
Genfer Verhandlungen abzurücken, war nur folgerichtig.
Am 8. Dezember 1987 war es soweit. Michail Gorbatschow
und Ronald Reagan unterschrieben in Washington einen präzedenzlosen Vertrag: Erstmals
in der Geschichte des Kalten Krieges einigten sich die Supermächte auf die
Eliminierung einer ganzen Waffengattung – und zwar der
allergefährlichsten! Sämtliche atomaren Kurz- und Mittelstreckenraketen,
die Sowjetunion hatte hier große Zugeständnisse gemacht, wurden in der
Folgezeit verschrottet. Insgesamt 2.692.
Damit nicht genug. Der INF-Vertrag setzte eine Dynamik
in Gang, die auch substanzielle Abrüstungsschritte im Bereich der
konventionellen Waffen und der strategischen Interkontinentalraketen
ermöglichte:
Im START I-Vertrag, Ende Juli 1991 von Gorbatschow
und Reagans Nachfolger George Bush unterzeichnet, einigten beide Seiten
sich auf je 1.600 Trägersysteme und maximal 6.000 Atomsprengköpfe.
Insgesamt gelang es den Supermächten, ihr nukleares Arsenal um 80 Prozent zu
verringern!
Wie kürzlich bekannt
wurde, war in dieser Phase nicht nur Gorbatschow sondern – man höre und
staune! – auch Ronald Reagan zu einer vollständigen Abschaffung aller
Atomwaffen bereit.
Es folgten die friedlichen Revolutionen in den
kommunistischen Staaten Mittel- und Osteuropas, die Mauer fiel und im Dezember
1990 erklärten die USA und die Sowjetunion in der „Charta von Paris“ den
Kalten Krieg für beendet …
Das Erbe Gorbatschows an die Wand gefahren
Es ist anders gekommen. Wer auch immer in den letzten
Jahren den INF-Vertrag angeblich oder tatsächlich verletzt haben mag –
verantwortungsvolle Politik hätte bedeutet, sich mit der anderen Seite an einen
Tisch zu setzen, für wechselseitige Transparenz (‚Glasnost‘) zu sorgen,
den INF-Vertrag zu aktualisieren und gegebenenfalls den veränderten
geopolitischen Rahmenbedingungen des 21. Jahrhunderts anzupassen.
Stattdessen hat der amerikanische Präsident mit der
Planierraupe die letzten Reste des politischen Erbe Gorbatschows und der
anderen Politiker, die den ersten Kalten Krieg beendet hatten, plattgemacht und
fahrlässig an die Wand gefahren! Jedes Kind kann sich an fünf Fingern die
Dynamik abzählen, die Trump durch seine einseitige Kündigung des wichtigsten
Abrüstungsvertrages der Weltgeschichte entfesseln wird.
Schon jetzt ist abzusehen, dass der im Frühjahr
2011 von Obama und Medwedew unterzeichnete New START-Vertrag, der eine weitere
Reduzierung der beidseitigen Nukleararsenale auf je 800 Trägersysteme und 1.550
Atomsprengköpfe vorsieht, nach seinem Auslaufen 2021 nicht mehr verlängert
wird!
Neue ‚verbesserte‘ Mittel- und
Kurzstreckenraketen werden in Europa – West und Ost –
aufgestellt werden, möglicherweise auch zu beiden Seiten der russischen Grenze
im fernen und fernsten Osten. Verlierer sind in jedem Falle die Europäer, im
Worst Case die gesamte Menschheit. Ob im Ernstfall noch ein
Stanislaw Petrow das Schlimmste beherzt verhindern wird oder ob
angesichts wieder extrem verkürzter Vorwarnzeiten auch die Entscheidung von
Krieg und Frieden schon an Computer delegiert ist, steht noch dahin!
Die Situation wird nie wieder so schlimm sein wie in
den Achtzigern, sondern – schlimmer!
Die Emanzipation Europas
Oder ist vielleicht alles doch nicht so gemeint? Blufft
Trump wieder nur? Will er die Chinesen auch noch an den Verhandlungstisch
zwingen? White House-Astrologie hat die Kreml-Astrologie des ersten Kalten
Krieges ersetzt!
Sollte Trump es jedenfalls ernst meinen, sollte er
seine Ankündigung vom letzten Samstag tatsächlich wahr machen, dann wird sich
auch noch der treueste Transatlantiker in und außerhalb der EU fragen müssen,
ob die Interessen der USA noch mit den Interessen Europas identisch sind!
Schließlich steht nichts weniger als das Überlebensinteresse Europas auf dem
Spiel.
Sollte es Europa auch mit dem größtmöglichen
diplomatischen Druck nicht gelingen, beide Supermächte wieder an den
Verhandlungstisch zu drängen, wird es sich von den USA abkoppeln müssen.
Europäische Emanzipationsbestrebungen können nicht länger mit dem
Totschlag-Argument, der Westen dürfe sich nicht von Russland spalten lassen,
torpediert werden!
Vielleicht wird diese Entwicklung endlich auch wieder
eine Friedensbewegung auf den Plan rufen, die diesen Namen verdient. Der Frieden
ist bekanntlich zu wichtig, um ihn den Politikern und Generälen zu überlassen!
Putin:
US-Rückzug aus ABM-Vertrag hat neuen Rüstungswettlauf ausgelöst